Der Kommentar am Sonntag in DNEWS24.

Gedankenmacher: Der Fall (von) Hubert Aiwanger

Die vermeintliche Nazi-Affäre um den Vize-Ministerpräsidenten von Bayern und Chef der Freien Wähler, Hubert Aiwanger, sagt viel über den Zustand der Republik.

Die Melange der Flugblatt-Affäre um Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger ist unappetitlich: halbgare Gerüchte, halbherzige Dementis, klare Meinungen, unklare Zukunft. Die Causa Aiwanger ist noch nicht „durch“, ihre Folgen können dramatisch werden.

Aiwanger und seine Glaubwürdigkeit

Der bisherige Klartext-Politiker kann sich nicht erinnern. Dabei klingen die Vorwürfe schwerwiegend und speziell: Aiwanger soll ein antisemitisches Flugblatt verfasst haben. Mitschüler des Gymnasiums in Mallenberg-Pfaffenberg behaupten, Aiwanger hätte den Hitler-Gruß gezeigt und die Nazi-Hymne, das Horst-Wessel-Lied gesungen. Auch das Hitler-Buch „Mein Kampf“ habe Aiwanger in seinem Schulranzen mitgeführt. Andere Schüler geben an, nichts von all dem bemerkt zu haben, der „Hubsi“ sei völlig normal gewesen.

Nur: was ist normal gewesen Mitte der 1980er Jahre in Mallenberg-Pfaffenberg? Und: warum kommen die Vorwürfe gegen Hubert Aiwanger jetzt mit geballter publizistischer Macht in die politische Debatte, obwohl die Flugblatt-Affäre lange bekannt war?

Aiwanger und die Medien

Hubert Aiwanger hat ein lange gepflegtes Image. Bodenständig, bürgernah, deutlich, gradlinig – so stellt sich Aiwanger dar, so sehen ihn die Medien. Und nun? Ist Aiwanger ein verkappter Nazi? Die einen Medien sagen so, die anderen Medien sagen so. Schlagzeilen machen alle, belastbare Fakten, Klarnamen-Zeugen liefern nur wenige Medien. So wabert eine Gerüchte-Küche formuliert in Konjunktiven und Mutmaßungen. Sauber recherchierter Qualitäts-Journalismus sieht anders aus.

Aiwanger und die Politik

Hubert Aiwanger ist nicht irgendwer. Seit 2006 ist er Vorsitzender der Freien Wähler in Bayern, seit 2018 ist er Wirtschaftsminister in Bayern und stellvertretender Ministerpräsident im Freistaat. Seine Partei ist unverzichtbarer Koalitionspartner der einst allmächtigen CSU des Markus Söder. Beschädigt die Aiwanger-Affäre die CSU, ist deren Chef Markus Söder nicht nur in Bayern, sondern auch bundesweit als möglicher Kanzlerkandidat erledigt. Denn mit wem, wenn nicht den Freien Wählern, will Söder als Ministerpräsident wiedergewählt werden? Die Grünen scheiden wohl aus, die hat Söder zum Hauptgegner erklärt. SPD und FDP sind zu schwach, um eine parlamentarische Mehrheit zu sichern. Die AfD ist auch in Bayern nicht politikfähig. So ist die Söder-CSU an die Freien Wähler gekettet, komme, was und wer da wolle. Aber die Freien Wähler ohne Hubert Aiwanger gibt es nicht.

Aiwanger und die Schuldigen

Ein ehemaliger Deutschlehrer von Aiwanger soll die Flugblatt-Affäre ins Rollen gebracht haben. Der Mann ist SPD-Anhänger und Gewerkschafter. Noch viel wichtiger ist aber: warum hat dieser Pädagoge nicht Mitte der 1980er Jahre wirksame Anstrengungen unternommen, den braunen Sumpf an seinem Gymnasium trocken zu legen? Was haben seine Mitschüler getan, was haben seine Eltern getan?

Aiwanger und die Wähler

Eine aktuelle Civey-Umfrage im Auftrag der „Augsburger Allgemeinen“ zeigt, dass 53 Prozent der Befragten die Forderung nach einem Aiwanger-Rücktritt für falsch halten, 45 Prozent sogar für eindeutig falsch. Nur rund jeder Dritte empfindet die Rücktritts-Forderung als berechtigt, 13 Prozent sind unentschieden. Die Bürger in Bayern stehen noch eindeutiger hinter Aiwanger. 62 Prozent finden im Freistaat die Rücktrittsforderung überzogen, 30 Prozent halten sie für richtig. Acht Prozent nannten keine Tendenz.

Jugendsünde oder in der Wolle gefärbte braune Socke? Erleben wir einen Klimawandel der Erinnerungs-Kultur oder ist das die deutsche Version des Trumpismus? Jedenfalls hat Deutschland jetzt noch ein Problem.

DNEWS24Podcast Gedankenmacher – überall, wo es gute Podcasts zu hören gibt. #Gedankenmacher

n

Der Autor

Uwe-Matthias Müller ist Gründer und Vorstand des Bundesverband Initiative 50Plus, des Bundesverband Initiative 50Plus Austria und Sprecher des European Center of Competence for Demography.

Bis 1996 hat er mit seiner Frau und den beiden Töchtern in (West-)Berlin gelebt. Nach zwei Jahren im Ausland lebt er heute in Bayern.

Uwe-Matthias Müller kommt viel und gern nach Berlin. „Als Berliner auf Zeit geniesst man nur die Vorteile der Hauptstadt und kann die vielen Unzulänglichkeiten, unter denen die Bewohner täglich leiden, einfach ignorieren.“

DNEWS24 auf Twitter folgen