Der Kommentar am Sonntag in DNEWS24.

Gedankenmacher: Die Besenwirtschaft – mein Treffen mit der Demografie

Die Demografie am eigenen Leib zu erfahren, ist noch einmal etwas ganz anderes, als darüber zu lesen oder zu forschen. Ein Erlebnis aus Berlin.

Diese Geliebte ist eine Stalkerin. Die Stadt hat mich nie aus ihren Fängen gelassen. Es gibt kleinere Städte, größere Städte, besser verwaltete Städte, schönere Städte mit noch mehr Kultur, Grün und Genuss. Aber Berlin ist nun mal „meine“ Stadt, auch wenn ich dort schon lange nicht mehr wohne und privat auch lieber woanders wohnen würde. Mit Wien, Paris, Madrid, Sidney oder Buenos Aires – um nur einige große Städte zu nennen – kann die deutsche Hauptstadt nicht mithalten.

Es gab Jahre, da war ich nie in Berlin. Potsdam – ja. Aber nicht Berlin. Bloß nicht. Dann plötzlich blühte die alte Liebe doch wieder auf. Beruflich musste es sein, privat sollte es sein. Ich erkundete die Stadt – wie ich das gern tue – zu Fuß, unternahm lange Spaziergänge, guckte, staunte, schüttelte den Kopf und nickte bewundernd.

So kam ich auch in die Gegend, in der ich fast 20 Jahre lebte. Ausgezogen aus der väterlichen Wohnung wohnte ich mal rechts, mal links vom Ku’Damm. Meine erste Wohnung dort war so winzig klein, dass sie eine gute Ausrede bot, jeden Abend auszugehen. Und so kannte ich bald jede Kneipe, jedes Bistro und Restaurant, Kino, Theater und was sonst noch in der Westberliner City.

Nach den „wilden“ Jahren und nun gesegnet mit einer Familie, legte ich jeden Morgen und Abend den Weg von der – nun größeren – Wohnung in mein Büro zu Fuss zurück. Mein Job machte mir Spaß, war aber auch anstrengend und oft zeitraubend. Um den Tagesstress nicht mit nach Hause zu bringen, gewöhnte ich mich an ein Ritual, das ich in Madrid und Rom kennengelernt hatte. Auf dem Heimweg einen schnellen Aperitif trinken, etwas quatschen und dann ab nach Hause.

Die Adresse für ganz schwere Tage war der „Rum Trader“ mit dem unvergleichlichen Herrn Schröder. Er war ein Seigneur, vornehm und kultiviert – jedenfalls viel mehr als die Möchtegernprotzer aus der Ich-mache-schnelles-Geld-egal-wie-Branche, die sich später nach und nach am Fasanenplatz einnisteten. Da es bei Herrn Schröder aber ausschließlich Rum-Cocktails gab – ohne Namen aber mit Stufen: Stufe 1 für Theatergänger, Stufe 3 für Liebeskummergeschädigte – war das für mich nichts für jeden Tag. Da lockte schon eher das kleine Lokal mit württembergischen Weinen und schwäbischer Hausmannskost.

Und da war ich also wieder. Nach einer Pause von 10 Jahren sass ich wieder in der Besenwirtschaft. Alles war wie immer. Alles? Nun ja, die Weine schmeckten, das Essen sowieso. Nur die Gäste waren anders. So alt. Früher war die Besenwirtschaft voller Stammgäste zwischen 40 und 60 Jahre alt. Und jetzt? Alles Grauköpfe und Faltenträger. Plötzlich durchfuhr es mich wie ein Blitz. Das waren noch die gleichen Stammgäste, nur eben 10 Jahre älter, wie in einem Film, wenn man vorspult. Mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich ja nun auch 10 Jahre älter war und ich fühlte mich sofort dem Ruhestand nahe. Zerknirscht zahlte ich, lief nicht mehr behende sondern schlich von dannen und pflegte im Spa-Bereich meines Hotels die grausamen Wirkungen meiner Midlife-Crisis.

Antje Rückholz sperrt die „Besenwirtschaft“ in der Uhlandstraße 159 jetzt zu. Nach 49 Jahren Betrieb ist für die 82jährige Schluss. Ob es irgendwann mit einer neuen Besenwirtschaft weitergehen wird? Einfach wird es nicht, die herzliche Gastwirtin mit Leib und Seele zu ersetzen…

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Der Autor

Uwe-Matthias Müller ist Gründer und Vorstand des Bundesverband Initiative 50Plus, des Bundesverband Initiative 50Plus Austria und Sprecher des European Center of Competence for Demography.

Bis 1996 hat er mit seiner Frau und den beiden Töchtern in (West-)Berlin gelebt. Nach zwei Jahren im Ausland lebt er heute in Bayern.

Uwe-Matthias Müller kommt viel und gern nach Berlin. „Als Berliner auf Zeit geniesst man nur die Vorteile der Hauptstadt und kann die vielen Unzulänglichkeiten, unter denen die Bewohner täglich leiden, einfach ignorieren.“

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