Kollektiv-Schande

Haben wir nichts gelernt? Warum können Horden von Anti-Semiten auf Deutschlands Straßen ungehindert grölen und fackeln?

Ich bin zu jung, Helmut Kohl sprach von der „Gnade der späten Geburt“. Ich habe nicht miterlebt, wie in der Nacht jüdische Nachbarn aus ihren Wohnungen geholt, auf Lastwagen verfrachtet und in den Osten „umgesiedelt“ wurden. Ich habe nicht von Arisierungen profitiert, habe keine KZ-Häftlinge Bomben-Schäden reparieren sehen und keine Erinnerungen von Soldaten gehört, die von massenhaften Erschießungen von Kindern, Frauen und Männern erzählten. Das alles kenne ich aus Büchern und Dokumentationen. Um das Grauen der KZ zu fühlen, reicht oft eine Fahrt mit der S-Bahn: Dachau, Sachsenhausen, Buchenwald, Neuengamme sind mit den „Öffis“ erreichbar. Die Vernichtungslager im Osten Europas, die Hinrichtungsstätten in Weißrussland, im Baltikum, in der Ukraine und Russland sind schon schwerer zu erreichen. Dennoch: wer will, der kann die Orte der Untaten, die Alexander Gauland als „Vogelschiß der Deutschen Geschichte“ banalisiert hat, sehen und fühlen.

Am 9. November 1938 brannten in Deutschland Synagogen. In diesen Tagen brennen in Deutschland Flaggen des Staates Israel, werden Synagogen attackiert, ist es in vielen Gegenden Deutschlands eine Mutprobe, mit einem Davidstern an der Halskette oder einer Kippa auf dem Kopf auf die Straße zu gehen.

Und was tun

  1. die Politiker? Erklären, dass Anti-Semitismus in Deutschland keinen Platz hat. Aha, das wird die „Jungen Männer“ schwer beeindrucken…
  2. die Medien? Ordnen ein, verharmlosen, verschweigen. Mehrheitlich, es gibt sehr löbliche Ausnahmen, die die Fakten zeigen.
  3. die Polizisten? Greifen ein, wenn die Corona-Abstands-Regeln nicht eingehalten werden. Der Rest fällt unter „Demonstrations- und Rede-Freiheit“. Rechte, die es in den Ländern, aus denen die Anti-Semiten kommen nicht gibt, ebenso wenig wie Liberalität, Toleranz, Gleichberechtigung und Achtsamkeit gegenüber Andersdenkenden.
  4. die Bürger? Keine Ahnung, was die denken. Jedenfalls demonstrieren sie nicht für das Recht der jüdischen Bevölkerung in Deutschland, unbelästigt, unbedroht in Frieden und Freiheit leben zu können. Sie schauen weg, wie es ihre Großeltern auch schon taten.

Ich komme noch einmal auf die Politiker zurück. Es wäre doch mal ein Zeichen gewesen, wenn Annalena Baerbock, Armin Laschet, Olaf Scholz, Christian Lindner, Janine Wissler, Dietmar Bartsch, Alice Weidel und Timo Chrupalla Arm-in-Arm an der Spitze einer Bürger-Demonstration durch Berlin-Neukölln oder Duisburg-Marxloh gegangen wären.

Bin ich ein Träumer? Ich habe einen Traum: von einer besseren, toleranteren und aufgeklärteren Welt. Reichlich naiv – oder?

Uwe-Matthias Müller ist Gründer des Bundesverband Initiative 50Plus, des Bundesverband Initiative 50Plus Austria und des European Center of Competence for Demography.

Bis 1996 hat er mit seiner Frau und den beiden Töchtern in (West-)Berlin gelebt. Nach zwei Jahren im Ausland lebt er heute in Bayern.