Das Coronavirus verändert den Menschen bis zur Kenntlichkeit

In diesen Coronavirus-Tagen zeigen die Menschen ihr bestes und ihr hässlichstes Gesicht. Das ist normal, meint Sascha Rauschenberger.

Das Thema des Artikels ist vielschichtig. Denn so eine Kenntlichmachung kann in zwei Richtungen erfolgen. Einerseits in die Richtung der positiven Veränderung aber auch auf der anderen Seite in Richtung des Negativen. Doch eines ist beiden Richtungen oft gemein: die Überraschung der anderen, die das so nie gedacht hätten.

Der Spruch ist geklaut. Er hieß ursprünglich „Der Einsatz verändert den Soldaten bis zur Kenntlichkeit“ und galt in den isolierten PRTs von Bosnien über Djibouti bis zum Hindukusch. Aber auch schon vorher für unsere Marineschiffe auf diversen Touren rund um die Welt. Immer da, wo Menschen plötzlich ihre so liebgewonnene Freiheit eingeschränkt sahen, ihre Bewegungsfreiheit räumlich begrenzt war und/oder(!!) urplötzlich mit sehr vielen anderen dieses Schicksal gemeinsam teilen duften. Mussten. Die Bundeswehr – Armeen schlechthin – konnten immer wertvolle Beurteilungsbeiträge sammeln, die im Friedensbetrieb zu erkennen so nicht möglich waren. Besonders dann, wenn noch fachlicher (militärischer) Stress dazukam.

Dieses Phänomen wurde von der breiten Öffentlichkeit häufig ignoriert. Eine Einsatzdauer von sechs Monaten war und ist für viele Soldaten in den Einsätzen normal geworden. Sechs MONATE in einem Areal von 400 mal 200 Metern ohne auch nur einen Baum in Sichtweite, dafür aber zusammen mit 500 bis 800 Mann im Areal. Ohne die Chance mal rauszukommen war und ist für viele Soldaten im sog. „Einsatz“ Berufsalltag. Und wer dann mal raus darf schwebt ständig in der Gefahr erschossen, in die Luft gesprengt oder auf andere Art hinterrücks ermordet zu werden.

Die Parallelen zur verordneten gesellschaftlichen COVID19-Isolation sind augenscheinlich. Die Bude fällt einem auf den Kopf, die Familie nervt (auch weil es ihr genauso geht wie einem selbst) und wer rausgeht gefährdet sich und andere.

Hier wird der Mensch, auch wenn er nicht Soldat ist, für seine Umgebung kenntlich. Ist der schon immer so coole, ausgeglichene und beherzte Kerl von einem Mann wirklich so? Und die ach so taffe Frau von gleich daneben auch? Und was ist mit dem immer so aufbrausenden Nachbarn von Gegenüber, der sich über jeden Scheiß aufregt? – Wer mutiert nach ein, zwei oder zehn Wochen häuslicher sozialer Quarantäne zu was? Oder nach sechs Monaten??

Die Polizei meldet die Zunahme häuslicher Gewalt. Unbeobachtet von den Nachbarn, Freunden und Familie scheint da der ein oder andere Nerv blank zu liegen. Kinder, die man bisher in Kita und Schule abschieben konnte, zeigen nun das Verhalten, was man dem Lehrer/Erzieher in der Eltern-Sprechstunde nie glauben wollte. Die Frau wandelt sich zur Medusa deren versteinernde Blick den Homeoffice-Schaffenden trifft. Und der Ehemann und Vater sieht nun das, was seine Frau so am Tag nebenher leistete wie auch die Frau und Mutter sieht, dass der bloße Bürojob des Ehemanns alles andere als ruhig ist. Überhaupt berufstätige Ehepartner (mit Kindern) es nun gemeinsam schwer haben, gemeinsam zu arbeiten und gemeinsam den stetig wachsenden „Lagerkollar“ zu meistern.

Manche engagieren sich. Vernetzen sich und helfen den Nachbarn, die nicht mehr raus können oder nicht mehr raus sollten, weil sie einer Risikogruppe angehören. Davon sind die ohnehin schon oft einsamen Senioren betroffen. Diese haben aber schon lernen müssen, mit ihrer Altersisolation umzugehen. Tagelang allein in den vier Wänden zu sitzen. Ja genau, das tun viele Großeltern klaglos, um die ach so beschäftigten Kinder und Enkel nicht zu nerven. Mal genau darüber nachdenken. Jetzt ist Zeit. Schon mal (hinter)gefragt, warum die Oma „nur“ einmal die Woche anruft? Oder einmal im Monat? Warum rastet ein Ehepartner aus? Er ist doch nur vierzehn Tage in den eigenen vier Wänden isoliert. Gut, Selbstständige haben es nun schwer, bis hin zur Pleite, aber warum aufregen? Hauptsache man überlebt das Virus, oder? Schon mal überlegt, dass viele Selbstständige nur selbstständig sind, weil sie zu alt waren um in unserer Industrie unter dem allseits herrschenden Jugendwahn noch eine Stelle zu finden und sich mehr schlecht als recht durchschlagen? Wie viele kranke Menschen einen Kiosk betreiben müssen, um über die Runden zu kommen? Wie viele Menschen zwei oder gar drei kleine Jobs haben, um durchzukommen? Existenzängste verändern. Nicht immer, aber auf Dauer mit Sicherheit. Und dann auch so, dass Angst zu Aggression wird. Gegen die, die dann nun mal da sind.

Manchmal ist es auch bloß Frust. Es gibt Familien, die entdecken nun Gesellschaftsspiele für sich und ihre Kinder, zu denen man Opa und Oma per Skype zuschalten kann. Das geht. Das Spiel des Lebens, Monopoly und Mensch-ärgere-dich-nicht kann man auch so spielen. Das geht. Die XBox, PS4 und andere Konsolen haben auch Spiele für mehrere. Auch das geht. Man könnte sogar vernetzt mit anderen Spielen. Oder man könnte auch gemeinsam mal lesen. Jeder sein Buch. Es hätte nun Vorteile, den Trend zum Zweitbuch schon früh weiterverfolgt zu haben.

Lagerkoller muss nicht sein. In den PRTs im Einsatz fanden auch viele Soldaten wieder zum Glauben. Kein Kontingent ohne Taufen. Das geht nun nicht, da Gotteshäuser zu sind. Aber man kann sich durchaus einlesen. Und der ein oder andere Satz in Bibel, Koran und Thora mag durchaus wegweisend sein, um aus der zunehmenden persönlichen Krise heraus zu finden.

Andere könnten nun etwas schreiben. So wie ich selbst. Leser warten auf die jährliche Fortsetzung zur SPQR-Romanserie, die nun früher kommen soll. Eben weil sie ggf. nicht in den Urlaub können. Zusätzlich und noch länger zuhause sind. Die Urlaubsfreude auch noch wegfällt. Wegfallen wird! Corona ist nicht im Juli beendet. Nur mal so…

Warum nicht mal ein paar Gedanken aufschreiben und verschicken. An Freunde und Bekannte. Die würden vielleicht auch gern mal von anderen lesen, dass es denen genauso geht wie einem selbst. Das ist wichtig. Man sieht aber auch, wie andere damit umgehen. Sich in der Familie gegenseitig anzuschreien oder gar zu schlagen ist der Situation kaum förderlich. Es verschärft die Lage nur.

Der Fall Toilettenpapier zeigt, dass das Vertrauen ohnehin schwindet. Auch hier wurde der Mensch als Bürger kenntlich. Alle sagten, dass Hamsterkäufe nicht nötig sind. Die Versorgung stehen würde. Politik, Medien und Experten wetteiferten mit Balsam fürs Volk. Nur das Volk glaubte es nicht (mehr). Auch hier zeigte nun der Mensch sein wahres Gesicht. Er zeigte der Politik und den Medien, wie er die Lage sieht und handelte. Nudeln, Tomatensoße, H-Milch, Desinfektionsmittel, Atemmasken und dergleichen sind aus den Regalen dauerhaft verschwunden. Sind nur ab Ladenöffnung plus fünfzehn Minuten verfügbar. Vielleicht dreimal die Woche, wenn es gut läuft. Der Hamster ist schon jetzt das Tier des Jahres 2020.

Und was ist aus Medien, Politik und Experten geworden? Wir alle (oder viele von uns…) waren still und heimlich schon lange der Meinung, dass unsere Volksvertreter mehr oder weniger offensichtlich Schönwetterredner sind. Alles aussitzen wollend und mit dem Scheckheft Probleme lösend, wo rechtzeitig gesunder Menschenverstand schon geholfen hätte. Das bewahrheitet sich ganz offensichtlich. Die neuesten Politikbarometer zeigen das auf. Populisten von links und rechts stürzen ab. Unser medialer Sonnenschein Robert Harbeck forderte sogar, dass Unternehmen ohne Kunden nun die Zeit für energetische Renovierungen nutzen sollten. Zur Klimarettung. Zusätzlich zu den Belastungen aus wegbrechendem Geschäft, bei Lohnfortzahlung und laufender Miete. Klar. Jetzt wissen wir, wer da Kanzler werden will. Wollte. Weil so viel „Empathie“ bleibt im Gedächtnis der Menschen, die andere Geister nun besser erkennen. Fachlich wie auch charakterlich.

Die TAFELN müssen schließen. Mitunter auch, weil die sich dort engagierenden Menschen hauptsächlich Senioren sind, die zur Risikogruppe gehören. Die Menschen, die aber auf die Hilfe der Tafeln angewiesen waren, leiden nun noch mehr. Es gibt nichts mehr, was gerade für die Armen nun doppelt fatal ist. Für hunderttausende in unserer reichen Gesellschaft sind 40 Euro mehr oder weniger im Monat zu haben, existenziell. Man will es nicht glauben. Auch hier wird vieles nun sichtbarer. Wen kümmert es und wen halt nicht?

Da werden Homeoffice-Arbeitsplätze gefordert. Als Recht der New-Work-Generation verkauft und hochgelobt. Und weil das so ist kommen dann auch Begehrlichkeiten hoch. Warum soll ich den Strom für den Laptop und das Netz selbst zahlen? Das muss mir doch der Arbeitgeber ersetzen, oder? Es gibt sogar Rechtsanwälte die mit solchen Gedanken „Werbung machen“. Wer so denkt wird mit Sicherheit auch dem FinAmt gegenüber bei der Steuererklärung sagen, dass er in Homeoffice war, wenn er seine Fahrtkosten als Werbekosten veranschlagt, richtig? Und dem Arbeitgeber gegenüber wird er natürlich die gesteigerte Produktivität abliefern, da er nun die Wegezeit zwischen Wohnung und Arbeitsplatz einspart. Klar. Zumal die Familie auch nicht nervt, die Kinder zu Hause „abchillen“ und insgesamt das „Projekt Homeoffice von Papa und Mama“ fördern. – Man könnte nun auch mal andenken, dass Homeoffice Lohnabschläge rechtfertigen könnte? Wegen Produktivitätsverlusten? – Nein? Der bisher unkenntliche Mensch wird wieder kenntlicher.

Und wie sieht das mit den Staatshilfen aus? Da wurde schnell beschlossen, dass keinem Mieter jetzt wegen ausbleibender Miete gekündigt werden darf. Ein wichtiger Gedanke, der nicht ohne Grund erlassen wurde. Vielen Einzelhändlern und Privatpersonen hilft. Auch Kurzarbeitergelder sind in Ballungsräumen existenzbedrohend. Was sagt es aber aus über den Charakter der Verantwortlichen von Deichmann, Adidas und anderen, die als Groß-Unternehmen ihre Ladenmieten nicht mehr zahlen wollen? War für die Multis das Gesetz angedacht? War das wirklich so gemeint? Wird hier die miese Fratze des verlogenen Opportunisten kenntlich? Anonym als Geschäftsleitung X und Y getarnt? Müssten wir nicht diese Geschäfte meiden wie Corona selbst? Aus Prinzip und der Erkenntnis, dass diese Art von Geschäftsgebaren verabscheuenswürdig ist. Die Krise sogar verschärft? Es gibt viele weitere Beispiele. Auch schöne Beispiele. Man wünscht sich jetzt als Abschied gegenseitig „…und bleiben Sie gesund“. Nur ein paar Worte zusätzlich, die aber Hoffnung machen.

Das Coronavirus verändert den Menschen vielseitig zur Kenntlichkeit. Mitunter sogar die Länder und die Menschheit. Fest steht schon jetzt, dass unsere alte Welt der Sorglosigkeit, der Maßlosigkeit und des auf  die eigenen Rechtepochens unter Missachtung elementarer gesellschaftlicher Pflichten hinfällig geworden ist.

Hier mal ein Zitat, das wir alle einmal richtig durchdenken sollten:

Schwere Zeiten bringen starke Menschen hervor.

Starke Menschen ermöglichen gute Zeiten.

Gute Zeiten bringen schwache Menschen hervor.

Schwache Menschen verursachen schwere Zeiten.

Nun möge jeder einmal darüber nachdenken, welche Menschen und welche Zeiten nun kenntlich wurden. – Sic!


Foto: Yusuf Simsek: „Der Apfel der Erkenntnis“, https://www.simsek.ch/