WikiPetra – Reportagen, Hintergrund-Analysen und Kommentare von Petra Fritz in DNEWS24.

Olympioniken: ihre Erinnerungen, Träume und Nöte. Von Petra Fritz

Ringen ist olympische Disziplin der ersten Stunde, so die Relief-Abbildung aus dem Sockel des Kouros (ca. 500 v. Chr.), der sich im nationalen Archäologischen Museum in Athen befindet. Nicht umsonst unterscheidet man heute in Griechisch-römischer Stil und Freistil. Im Laufe meines Sportlerdaseins habe ich einige Top-Olympioniken persönlich kennengelernt, wie z.B. die Schweizerin Piourettenkönigin Denise Biellmann (Eiskunstlauf) und Michael Schmid (2010 Olympiasieger im Skicross). Anlässlich der bevorstehenden Sommerolympiade in Paris stelle ich zu Beginn den Ringer Alexander Leipold, Para-Leichtathlet Johannes Floors und die Rollstuhl-Fechterin Esther Weber näher vor. Sie alle eint ein außergewöhnlicher Werdegang.

Meine erste Begegnung mit einem Olympiasieger im Ringen war schon 1968. Wir waren gemeinsam als Glücksboten bei einer Verlosung eingeladen. Er (Bildmitte), der berühmte „Kran von Schifferstadt“ Wilfried Dietrich; ich als achtjähriges Eislaufküken (vorne rechts). Dietrich ist 1992 in Südafrika verstorben, seine sportlichen Nachkommen in Schifferstadt haben aber noch viele Titel errungen oder sind dem Ringen als Trainer treu geblieben.

Alexander Leipold

Einer davon ist der Schifferstädter Markus Scherer, der bei den Olympischen Spielen 1984 in Los Angeles die Silbermedaille sprichwörtlich errang. Ein anderer Alexander Leipold, der mit seinen zahlreichen Weltcupsiegen, Welt- und Europameistertiteln sowie dem Sieg bei den Olympischen Spielen in Sydney 2000 zu den erfolgreichsten Ringern weltweit – mit unglaublicher Geschichte – gehört. Er hat nicht nur vier Olympiaden als Sportler erlebt, er kennt auch die Anforderungen und Atmosphäre aus Sicht des Bundestrainers. Doch nicht nur im Sport wurde Leipold für seinen kämpferischen Einsatz und seine Zielstrebigkeit belohnt, auch im Privatleben konnte er schwierigste Herausforderungen erfolgreich niederringen. 2003 erkrankte er im Trainingslager in Usbekistan an einem Virus. In Folge erlitt er innerhalb einer Woche drei Schlaganfälle, war halbseitig gelähmt, konnte kaum mehr sprechen und schlucken. Der Kampf zurück auf die Matte war sein wohl größter Gegner, den er nicht zuletzt dank seiner mentalen Stärke und seines Durchhaltevermögens gewann. 2005 kehrte er mit dem Weltmeistertitel an die Weltspitze zurück.

Nach Abschluss seiner sportlichen Karriere absolvierte der Unterfranke ein Studium zum Diplom-Trainer und übernahm 2005 für sieben Jahre das Bundestraineramt der Freistilringer. Im Februar 2013 wurde ihm für seine Leistung als sportliches Vorbild und seines ehrenamtliches Engagements das Bundesverdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Auch bei einem „Ausflug“ auf das glatte Tanzparkett machte er bei „Let’s Dance“ eine gute Figur. Mittlerweile ist er ein gefragter Motivations-Coach: „Wer nicht kämpft, hat schon verloren“, „Glaub‘ an dich“, „Feel your Limit“. Der Buchautor ist ferner Botschafter der „Stiftung Deutsche Schlaganfall-Hilfe“. Seit 2021 ist er Vize-Präsident des Deutschen Ringerbundes.

Im Vorfeld der Spiele habe ich das Leistungszentrum in Schifferstadt besucht und danach mit Alexander Leipold über seine Olympia-Erfahrungen und Emotionen gesprochen. Er (heute 53 Jahre alt) brennt nach wie vor für seinen Sport, den er als „Schachspiel mit dem eigenen Körper“ bezeichnet, d.h. Erfolg durch Technik, Taktik und Nervenstärke. Seiner Einschätzung nach ist es ebenso wichtig, auch die Stärken und Schwächen des Gegners perfekt kennen, d.h. schon vorab einzuschätzen, welche Griffe dieser im Verlauf einer Runde ansetzen wird und wie man den Kampf zu eigenen Gunsten entscheiden kann. Vor vielen Jahren habe ich ihn in der Bundesliga einmal ringen sehen; und in der Tat habe ich ihn weniger als Kraftpaket, denn als flinken Fuchs mit blitzschnellem Reaktionsvermögen in Erinnerung. Der Vater zweier Jungs ist wie ich im Sternzeichen Zwilling und ein lebhafter, aufgeschlossener Typ. Ich erwische ihn gerade zwischen zwei Telefonaten und schon nach einer Minute sind wir uns einig, daß Applaus und Anfeuerungsrufe während des Wettkampfes „das Salz in der Suppe“ sind. „Als Trainer ist man bei Wettkämpfen mindestens ebenso nervös, denn man möchte seinem Schützling ja keinen falschen Tipp im Umgang mit dem Gegner geben“, so mein Gesprächsexperte.

Viel Glanz und ein Schatten

Nach Paris werde er nicht fahren, auch wenn er jetzt mal Gelegenheit hätte, entspannt bei einer Eröffnungszeremonie dabei zu sein. In all den Jahren stand jedes Mal bis zur letzten Minute eine optimale Wettkampfvorbereitung im Vordergrund. In Seoul (1988) ging für den damals 18-Jährigen ein Kindheitstraum in Erfüllung und der 7. Platz war ein großer Erfolg. In Barcelona (1992) wurde ihm gleich zu Beginn ein Favorit zugelost, was im K.O-System ein rasches Ausscheiden bedeutete. In Atlanta (1996) reiste er als Vize-Weltmeister an und wurde aufgrund einer umstrittenen Bewertung am Ende aber „nur“ Fünfter, was seinen persönlichen Anspruch nicht befriedigte. „Für Sydney 2000 verlief schon die Vorbereitung optimal. Überlegt und konzentriert kämpfte ich mich mit all meiner Routine in’s Finale und mit einer Energieleistung schließlich zu Gold“. Aufgrund zweifelhafter Dopingvorwürfen ährte seine Freunde darüber jedoch nur kurz. Auch wenn er später rehabilitiert wurde, bekam er seine Goldmedaille nicht zurück und darf sich nicht Olympiasieger, sondern „nur“ Sieger der Olympischen Spiele nennen. Diese unglaubliche Regelung resultiert u.a. daraus, dass deutsche Olympiateilnehmer vorab unterschreiben müssen, alle Entscheidungen des NOK/ IOC zu akzeptieren und statt im Falle von Streitigkeiten ein ordentliches Gericht anzurufen, allenfalls interne Verhandlungen am CAS (Court of Arbitration for Sport), dem internationalen Sportgerichtshof in Lausanne, zu führen. Die spätere Rehabilitierung konnte seine Sportlerseele zurecht jedoch wenig befriedigen. Von Regressansprüchen ganz zu schweigen, stellte dieser Umstand seine Nervenstärke für viele Jahre auf eine harte Probe. „Mit meinem Buch habe ich mir den Frust regelrecht von der Seele geschrieben“, so Leipold. Zeitweilig kam ich mir vor, wie ein zu Unrecht beschimpfter Kinderschänder, irgendwas bleibt immer hängen“.

Trotzdem – oder gerade deswegen – bewahrt er seine Trophäen und die Olympiakleidung sorgsam in einem Schrank auf. Einige Kleidungsstücke hat er später auch für gute Zwecke versteigert und als Leihgaben in ein Museum gegeben. Klar hätte er auch gerne mal eine Fackel getragen, jedoch habe ihm das nie jemand angeboten. „Und wenn ich auch nie eine Eröffnungsfeier erlebt habe, so doch fünf Abschlußfeiern“, so Leipold mit verschmitztem Lächeln.

Die Website von Leichtathletik-Para-Weltmeister Johannes Floors beginnt mit den Worten: „…. alles rauscht an dir vorbei. Wenn man diesen Punkt hatte – und so war es bei mir – dann will man immer nur noch schneller rennen. Ich bin mit einem Fibula-Gendefekt auf die Welt gekommen, das heißt, die Unterschenkel und Füße waren deformiert, Wadenbeine habe ich keine. Ich hatte 16 Jahre lang extreme Schmerzen, andauernd. Irgendwann habe ich mich vor die Wahl gestellt: Rollstuhl oder Prothesen. Es war keine leichte Entscheidung, aber die richtige. Die beste meines Lebens. Was ist daraus geworden? Ich habe Sportabitur gemacht, einen Triathlon hinter mir, bin mehrfacher Weltmeister, Paralympics-Sieger im 400- Meter-Lauf (Tokyo) und ausgebildeter Orthopädietechnik-Mechaniker – und ich habe mich erst vor sechs Jahren amputieren lassen. Ich vergesse das immer ein bisschen, aber das Wichtigste ist, der Schmerz, ist weg. Ich wollte einfach nur keine Schmerzen mehr haben und kann manchmal selbst nicht fassen, wie viel Positives aus dieser Entscheidung entstanden ist.“

Dem ist eigentlich nichts hinzufügen. Adjektive wie „taff“ oder „genial“ klingen angesichts des Werdegangs des heute 29-Jährigen wie Worthülsen. Weiterhin alles Gute für die Paralympics (28.08. bis 08.09.24). Leider kam ein Gespräch nicht zustande und für mich bleibt die Frage offen: Was kann so jemanden noch schrecken?

Esther Weber

Eine erfahrene und höchst erfolgreiche Paralympics-Teilnehmerin ist auch die Rollstuhl-Fechterin Esther Weber, deren Leben im Alter von 15 Jahren durch einen Autounfall eine drastische Veränderung erfuhr. Um so mehr bewundere ich an der Betriebswirtin, die zudem Mathematik und Theologie im Lehramt studierte, die Stärken „Geduld“, „für andere da zu sein“ und „verlieren können“. Wer Esther Weber näher kennenlernt, merkt schnell, dass es genau das ist, was sie vorantreibt und erfolgreich macht. Geduld braucht es beim Fechten eben, um den richtigen Moment abzuwarten und dann den entscheidenden Treffer zu setzen. „Verlieren können“ bedeutete für Sie erster Linie „lernen den Verlust physischer Defizite zu akzeptieren“ und sich – nicht nur in sportlicher Hinsicht – neu zu orientieren. „Aus dem, was man hat, etwas machen, also kreativen Pragmatismus leben“, ist ihre Lebensmaxime.

Kein Wunder, dass eine Ihrer Lieblingskünstlerinnen die Mexikanerin Frieda Kahlo ist, die in jungen Jahren von einer Straßenbahn erfasst wurde und Zeitlebens durch Rückgratdeformationen und einem Korsett an unsäglichen Schmerzen litt. Dennoch wurde sie eine weltberühmte Malerin; oder vielleicht genau deshalb? In jedem Falle eine Persönlichkeit, die auch ich seit meines Aufenthaltes in Mexiko für ihre Willens- und Schaffenskraft bewundere.

Esther Weber nahm an vier paralympischen Spielen teil, nämlich in Barcelona (1992), Atlanta (1996) und Sydney (2000). Jedes Mal kehrte sie mit mehreren Medaillen heim, wobei das Degen-Gold von Barcelona natürlich besonders hell strahlt. Ganz zu schweigen von den vielen WM- und EM Medaillen im Degen- und Florettfechten sowie unzähligen DM-Titeln. Einzig in Athen 2004 blieb sie ohne Medaille. „Ja, die Teilnahme an den ersten paralympischen Spielen in Barcelona wirke bis heute am nachhaltigsten, nicht nur wegen der Goldmedaille“, so Esther Weber als wir Anfang April telefonieren. Auch für sie als „Paralympikerin“ (Startklasse B) ist dabei sein eben NICHT alles und über so manche Trefferentscheidung – insbesondere beim Florettfechten – habe sie sich im Laufe ihrer Karriere schon geärgert. Statt einer Medaille bleibt aufgrund des K.O-Systems dann schnell mal nur ein Platz neben dem Treppchen.

Trainiert habe sie zweimal am Tag genauso umfänglich wie die „Fußfechter“ und war im Training in Waldkirch und im Leistungszentrum Tauberbischofsheim immer voll integriert. „Da haben sich die anderen Top-Fechter eben auch mal in den Rollstuhl gesetzt bzw. im Gestell fixiert und nur aus dem Oberkörper heraus gefochten. Das war für beide Seiten eine perfekte Trainingsvariante“. Zumal sie, obwohl eigentlich Rechtshänderin, der besseren Restkraft wegen „Linksfechterin“ wurde. Am Fechten habe sie schon immer das Zusammenspiel von Technik und Taktik fasziniert; gepaart mit ihrer mentalen Stärke offensichtlich das perfekte Erfolgsrezept. Die Behinderung hielt sie auch nicht davon ab, seinerzeit ein Studienjahr in Italien zu verbringen. Schließlich kommen neben Polen und Frankreich von dort besonders starke Gegnerinnen her. In Catania – man höre und staune – fand sie die perfekte Uni für ihr Erasmus-Jahr und den entsprechenden Fechtverein. „Da konnte ich mich mit vielen Topkolleginnen messen und mich auf deren Taktik und typische Fechtweise für den nächsten internationalen Wettkampf vorbereiten“. Bei diesem Satz kann ich sie durch das Telefon regelrecht schmunzeln sehen.

Das Leben danach

Die Waldkircherin und Mutter von zwei sportlichen Kindern (die aber weder Fechten, noch Leistungssport betreiben) erhielt schon viele Auszeichnungen u.a. das silberne Lorbeerblatt und 2000 den Georg von Opel-Preis „Die stillen Sieger“ in der Kategorie „Besondere Kämpfer“. Sie ist ferner Botschafterin des Landes Baden-Württemberg und Referentin des bemerkenswerten Projektes „Behinderte helfen Nicht-Behinderten“ etc. Seit 30. September 2008 trägt das Sonderpädagogische Bildungszentrum in Emmendingen überdies ihren Namen, nämlich „Esther-Weber-Schule“. „Die Feierlichkeiten anlässlich der Namensgebung waren sicher einer der emotionalsten Momente in meinem Leben“, so Weber. Auch dies war indirekt ein kleiner Sieg, da sie sich gegen prominente Konkurrenz wie die o.g. Frieda Kahlo und Margarete Steiff durchsetzen konnte. Apropos Sieg: Die Paraolympioniken dürfen sich nicht Olympiasieger, sondern ausdrücklich „nur“ Paralympics-Sieger“ nennen – so das IOC.

Eine ganz besondere Ehre wurde ihr schließlich in London lange nach ihrer Aktivenzeit zuteil, als sie im Rahmen des olympischen Fackellaufes die Fackel über die Tower-Bridge tragen durfte und vom damaligen Bürgermeister Boris Johnson in Empfang genommen wurde. Selbst später sagte sie darüber, dass es sich wie ein „Sechser im Lotto“ angefühlt habe und mit einer Olympiateilnahme gleichzusetzen sei. Am selben Abend nahm sie zusammen mit ihren Kindern auch an der grandiosen Opening-Ceremony der Paralympics teil, die von Königin Elisabeth II eröffnet wurde. In jeglicher Hinsicht der krönende Abschluss einer
Sportlerkarriere. Allerdings mußte sie die 275.- Euro für den Fackelabschnitt und die Reisekosten selbst aufbringen. Olympia hat eben immer seine eigenen Gesetze.

Mein Fazit

Vielleicht zeichnet (olympische) Para-Sportler und „krisenerprobte Athleten“ genau das aus: Nicht „nur“ Sportler bzw. Sportstars zu sein, sondern durch einige Wendungen im Leben viel breiter als andere aufgestellt und als Menschen gefestigter zu sein. Meine
Hochachtung!


Anmerkung: Fotos und Fotokollagen von PFritz zum Teil in Verbindung mit „Pho.to Editor“, Fremdmaterial (Bild/Ton) ist entsprechend gekennzeichnet

Petra Fritz

Die Autorin ist von Beruf Dipl-Kfm (Uni Mannheim), Jahrgang 1960, verheiratet, wohnhaft in Speyer und Locarno. Sie war 4 Jahre Personalleiterin bei den US-Streitkräften (AAFES) in Stuttgart und Heidelberg und in Folge 12 Jahre im Pharma-Management von BASF (Auslandsvertrieb) tätig, davon 18 Monate bei der Tochtergesellschaft Quimica Knoll in Mexico.

Von 2002 bis 2022 war Petra Fritz selbständige rechtliche Berufsbetreuerin (Vormund) und Verfahrenspflegerin für verschiedene Amtsgerichte in der Vorderpfalz. Seitdem widmet sie sich verstärkt ihrer Coaching- und Autorentätigkeit.

Privat war Petra Fritz Leistungssportlerin im Eis- und Rollkunstlauf (u.a. Teilnehmerin bei der Profi-WM 1978 und Top 10 1979), später 14 Jahre lang Vize-Präsidentin des Rheinland-pfälzischen Eis- und Rollsportverbandes sowie Repräsentantin „Frau im Sport“. Heute ist sie in der Freizeit gerne auf dem Wasser und auf Ski unterwegs. Ansonsten agiert sie seit 2012 auch als semi-professional Bestager-Model, Darstellerin, Moderatorin und Bloggerin für „Topagemodel.de“.

Petra Fritz hat das Buch „Mittendrin statt nur dabei“ veröffentlicht.

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