Herr über Tod und Leben. Oder: Boris Palmer – der furchtbare Populist

Boris Palmer entfacht eine Diskussion über die Frage, wie wir künftig miteinander leben wollen. Das ist gut. Seine Worte sind schändlich. Ein Kommentar von Uwe-Matthias Müller.

Es begann mit dem damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt. Irgendwann in den Wochen des Martyriums, das der Präsident des BDI, Hanns-Martin Schleyer, erlitt als er von der RAF entführt und gefangen gehalten wurde, entschied Schmidt, den Forderungen der Gangster der Rote Armee Fraktion nicht nachzukommen. Die Ermordung des BDI-Präsidenten am 18. Oktober 1977 war die Folge. Gemeinhin galt der Tod des Bürgers Schleyer als vom Bundeskanzler hingenommen und einkalkuliertes Opfer zum Wohle des Rechtsstaates.

Nun also Wolfgang Schäuble. Er sagte in einem Interview dem „Tagesspiegel“: „Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.“ Freunde, mit denen ich über die Worte Schäubles sprach, verweisen auf die vielen Verdienste des heutigen Bundestags-Präsidenten. Ich verweise darauf, dass Wolfgang Schäuble ein führender – und sogar zeitweise Vorsitzender – der CDU, der Christlich Demokratischen Union, ist. Die Frage erlaube ich mir: ist die These von Wolfgang Schäuble mit den christlichen und demokratischen Grudwerten unseres Landes vereinbar? Stellungnahmen der Kirchen und von Verfassungs-Rechtlern zu der These Schäubles würden mich brennend interessieren.

Und jetzt auch noch der eigentlich völlig unbedeutende Kommunal-Politiker Boris Palmer. Ja, er ist Bürgermeister der Stadt Tübingen. Ja, er ist einer der wenigen Bürgermeister, den die Partei von Bündnis 90/Die Grünen stellt. Und ja, Palmer gehört zu den bekannteren Gesichtern der grünen Politik, weil er immer wieder durch eigenartige, provozierende Thesen auffällt. Kenner der Szene sagen mir, Palmer sei sehr egozentrisch und eitel. Das führe immer wieder zu schlagzeilenträchtigen Ausfällen. Ich weiss nicht, ob das stimmt; ich kann auch nicht beurteilen, ob das Verhalten des Grünen-Politikers gesundheitliche Auffälligkeiten spiegelt. Boris Palmer sagte als gewählter Repräsentant der BILD-Zeitung: „Ich sage es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen, die in einen halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen.“ Wer ist Boris Palmer, dass er für sich und seine Berufs-Kollegen den Anspruch erhebt, über Leben und vor allem Tod entscheiden zu wollen? Die mediale Empörung über diesen Ausfall von Boris Palmer ist groß. Die Empörung ist vielleicht auch deshalb so groß, weil Palmer eine Partei repräsentiert, die sonst gern moralisch und über Andere erhaben argumentiert.

Über den Tag hinaus zeigen die aufgeführten Beispiele vor allem eines: Unsere Gesellschaft ist nicht davor gefeit, in einer Phase des demografischen Wandels, die eine signifikante Alterung der Bevölkerung mit sich bringt, über Leben und Tod, Behandlung oder vegetieren lassen in einer Form zu diskutieren, die nicht nur oberflächlich und effektheischend, also populistisch ist. In diesen Tagen wird immer wieder gefordert, Ältere wegzuschliessen, weil sie besonders durch das Coronavirus gefährdet seien und die Aufhebung des von der Regierung verhängten Lockdowns behinderten. Von dieser Forderung zu weitergehenden Sonderbehandlungen in naher Zukunft ist es nicht weit.

Daher gilt: wehret den Anfängen! Und vor allem: beginnen wir eine Diskussion über unsere Gesellschaft, die sich demografisch bald völlig verändert haben wird. Diese Veränderung führt zu anderen Last-Verteilungen.

Wollen wir das?

Und falls nicht: was ist dann die Alternative?


Bild: Manfred Grohe