Es ist UNSER Grundgesetz

Fast unbemerkt ist der 23. Mai 2020 verstrichen. Wer denkt heute noch an die Schaffung des Grundgesetzes? Von Uwe-Matthias Müller

Der Ort, an dem die verfassunggebende Versammlung, der Parlamentarische Rat, tagte, passte nicht so recht zur deutschen Wirklichkeit eines kriegszerstörten Landes: Schloss Herrenchiemsee im schönsten Oberbayern. Auch die zeitgenössischen Berichte über die für damalige Zeiten hervorragende Unterbringung und Verpflegung der Vertreter eines Volkes, das zu Millionen heimatvertrieben und mit illegalem Schwarzhandel ums Überleben kämpfte, waren nicht gerade volkstümlich. Die Zusammensetzung des Parlamentarischen Rates war nach heutigen Maßstäben auch nicht politisch korrekt, da gendermäßig unausgewogen. Es waren halt nur ein paar Damen in der Diaspora, die meisten weiblichen Vertreter kochten Kaffee und tippten Memoranden. So war das damals…

Aber das Ergebnis der Beratungen kann sich sehen lassen. Gestern vor 71 Jahren wurde das Grundgesetz beschlossen, das noch heute – in wesentlichen Zügen und trotz aller Änderungen – die Grundlage unseres staatlichen Lebens bildet.

Zwar hat das Grundgesetz nicht konkret auf essentielle Lebenslinien unserer Gesellschaft verwiesen – soziale Marktwirtschaft, Lastenausgleich, Westbindung, Unterstützung des Staates Israel, Aufarbeitung der NS-Diktatur, Ausgleich mit Polen und der UdSSR, europäische Union – aber immerhin bildet es die Basis eines Gemeinwesens, das inzwischen um die Länder, die 1989/1990 auf dem Gebiet der ehemaligen DDR gebildet wurden, ergänzt wurde.

Konrad Adenauer, einer der Protagonisten der Arbeit des Parlamentarischen Rates wurde dann übrigens im September 1949 zum ersten Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Und blieb dies 14 (Aufbau-)Jahre lang.

Das Grundgesetz heute

In den letzten Stunden stellte sich mir die Frage: „Wo ist eigentlich Bundespräsident Steinmeier?“ Der große Unsichtbare tauchte auch nicht auf, um ein paar Worte zu unserer Verfassung zu sagen. Das hätte ich aber für sehr angebracht gehalten, denn die im Grundgesetz verankerten Grundrechts sind von Bundesregierung und Bundestag seit Mitte März 2020 massiv eingeschränkt worden. Diese unbestreitbare Tatsache und eine generelle Würdigung der fortwährenden Kraft des Grundgesetzes hätte nach meiner Auffassung einen Podcast oder eine TV-Ansprache gerechtfertigt.

Überhaupt sollten wir einmal über zwei Dinge diskutieren. Nämlich 1. wie wir künftig der Schaffung des Grundgeseztes gedenken wollen. Immerhin könnte so ein Gedenktag versuchen, einen Beitrag dazu zu leisten, den Bürgern wieder mehr Gemeinsinn in Erinnerung zu rufen. Nicht für angeblich benachteiligte kleinste Minderheiten, sondern eben für unser ganzes Gemeinwesen. Und 2. müssen wir darüber sprechen, wie das Grundgesetz in einer Zeit weiterentwickelt werden kann, die für uns alle ganz neue und dramatische Herausforderungen birgt: Globalisierung, Digitalisierung, Demografie.

Das Grundgesetz in seiner Entstehung war ein Reflex auf die im Prinzip auch während der NS-Herrschaft geltende Weimarer Verfassung. Hitler hatte das Bestreben, das Deutsche Reich zu vereinheitlichen und zu zentralisieren weit vorangetrieben. Dem sollte ein stabiler Föderalismus mit einer konstruktiven Konkurrenz von Bundes- und Landesregierungen entgegengesetzt werden. Ob diese manchmal extrem anmutende Form der verwaltungsmäßigen Zersplitterung heute noch zeitgemäß ist, wäre doch eine Debatte wert.


Wer das Grundgesetz in seiner aktuellen Fassung lesen möchte, kann dies hier tun: https://www.gesetze-im-internet.de/gg/BJNR000010949.html.