Der Kommentar am Sonntag in DNEWS24.

Gedankenmacher: Die demografische Zeitenwende

Indien ist jetzt das bevölkerungsreichste Land der Erde. Mit globalen Folgen.

Was eigentlich wiegt schwerer? Die deutsche Ignoranz oder die deutsche Arroganz? Die kleinteilige Debatten-Kultur in unserem Land wendet sich häufig Themen zu, deren strategische Relevanz sich dem staunenden Publikum auf den ersten Blick nicht erschließt. Andere Themen werden bestenfalls gestreift, irgendwie gewinnt man den Eindruck, mangelnde Kenntnis und mangelndes Interesse führen zu einer politischen und medialen Vernachlässigung.

Lange Zeit galt das auch für den demografischen Wandel in Deutschland. Und es gilt immer noch für die Demografie weltweit. Wer weiß schon, welche Bevölkerungsentwicklung auf unserem Nachbarkontinent Afrika vor sich geht? Wer befasst sich mit den Folgen der Alterung der Bevölkerung im Baltikum oder Italien?

Und so nimmt es nicht Wunder, dass ein wahrhaft weltgeschichtliches Ereignis hier bei uns in Deutschland nur „unter ferner liefen“ wahrgenommen wird.

Indien, das größte Land in Südasien, hat China mit mehr als 1,4 Milliarden Menschen als bevölkerungsreichstes Land der Erde abgelöst. Dies ergeben Berechnungen des Informationsdienstes Science Media Center auf Basis von UN-Zahlen.

Im Jahr 2022 waren laut statista rund 25,3 Prozent der Bevölkerung Indiens zwischen 0 und 14 Jahre alt, rund 67,8 Prozent zwischen 15 und 64 Jahre und nur 6,9 Prozent 65 Jahre und älter. Zwar liegt die Lebenserwartung in Indien mit etwa 68 Jahren erheblich hinter Ländern wie z.B. Deutschland (81 Jahre) oder den USA (79 Jahre), die Geburtenrate liegt dafür deutlich höher. Noch Anfang der 70er Jahre gebar jede Frau im Schnitt über 5 Kinder. Die Fertilitätsrate geht nur langsam zurück und liegt heute bei immer noch knapp über 2 Kindern pro Frau.

Eine zunehmende Industrialisierung und damit einhergehend die Verbesserung des Gesundheitswesens und der Produktionsverfahren von Lebensmitteln in urbanen Räumen haben in Indien Auswirkungen auf den Bevölkerungsanstieg. Im südasiatischen Subkontinent fehlt jedoch noch in den von Landwirtschaft geprägten Landesteilen eine koordinierte und für jedermann erreichbare medizinische Grundversorgung und Rente. Somit ist ein möglichst zahlreicher Nachwuchs oftmals die einzige sinnvolle Altersvorsorge, die sich eine Familie leisten kann – eben vor allem in ländlichen Gebieten. Dieser Generationenvertrag ist in Indien, wie auch in vielen anderen vornehmlich ärmeren Ländern, Bestandteil einer langen Kultur. Dazu kommt, dass die Gleichberechtigung der Frau in Indien noch nicht sehr ausgeprägt ist und Frauen vor allem auf dem Land vornehmlich in unbezahlter Sorgearbeit tätig sind. Sie verfügen weder über ein eignes Einkommen und können somit auch keinen Anspruch auf eine staatliche Altersversorgung aufbauen.

Gelingt es der Regierung unter Premierminister Narendra Modi und den Unternehmen, ausreichend gut bezahlte und adäquate Arbeitsplätze zu schaffen, können in Indien bemerkenswerte Wohlstandsgewinne erzielt werden. Prognosen gehen davon aus, dass die indische Volkswirtschaft bald die Nr. 3 auf der Welt sein wird. Derzeit ist die Mehrheit der Arbeitskräfte noch immer in der Landwirtschaft tätig, auch wenn dieser Wirtschafts-Sektor nur einen geringen Beitrag zum Bruttoinlandsprodukt Indiens leistet. Das Land versucht daher schon seit einigen Jahren, das Wachstum und die Entwicklung der Industrie zu stärken. Subventionsprogramme wie die Production-Linked Incentives zielen neben einer höheren Wertschöpfung auch auf signifikante Beschäftigungseffekte ab.

Wir sollten daher unsere Perspektive weiten und stärker auf die Entwicklung der ganzen Welt blicken – mit all ihren Aspekten und Facetten. Es lohnt sich.

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Der Autor

Uwe-Matthias Müller ist Gründer und Vorstand des Bundesverband Initiative 50Plus, des Bundesverband Initiative 50Plus Austria und Sprecher des European Center of Competence for Demography.

Bis 1996 hat er mit seiner Frau und den beiden Töchtern in (West-)Berlin gelebt. Nach zwei Jahren im Ausland lebt er heute in Bayern.

Uwe-Matthias Müller kommt viel und gern nach Berlin. „Als Berliner auf Zeit geniesst man nur die Vorteile der Hauptstadt und kann die vielen Unzulänglichkeiten, unter denen die Bewohner täglich leiden, einfach ignorieren.“

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