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Filmtipp: Perfect Days

Perfect Days ist eine tief berührende und poetische Betrachtung über die Schönheit der alltäglichen Welt und die Einzigartigkeit eines jeden Menschen. Wim Wenders‘ Film ist auf der Oscar®-Shortlist

Hirayama reinigt öffentliche Toiletten in Tokio. Er scheint mit seinem einfachen, zurückgezogenen Leben vollauf zufrieden zu sein und widmet sich abseits seines äußerst strukturierten Alltags seiner Leidenschaft für Musik, die er von Audiokassetten hört, und für Literatur, die er allabendlich in gebrauchten Taschenbüchern liest. Durch eine Reihe unerwarteter Begegnungen kommt nach und nach eine Vergangenheit ans Licht, die er längst hinter sich gelassen hat.

Der Begriff der ‚Dienstleistung‘ hat in Japan eine völlig andere Bedeutung als bei uns.“ Wim Wenders im Interview

Mit Perfect Days kehren Sie nach vielen Jahren nach Japan zurück. Wie kam das Projekt zustande und wovon handelt es im Kern?

Anfang 2022 erhielt ich einen Brief aus Tokio: „Hätten Sie Interesse, nach Tokio zu kommen und sich ein höchst interessantes soziales Projekt anzuschauen? Es handelt sich um ein gutes Dutzend öffentlicher Toiletten, die allesamt von großen Architekten gebaut wurden. Wir könnten uns vorstellen, dass Sie das inspirieren könnte, vielleicht zu einem Fotobuch, vielleicht zu einer Reihe von Kurzfilmen, was auch immer. Sie hätten jede künstlerische Freiheit und wenn Sie sich darauf einlassen würden, würden wir Ihnen bestmögliche Bedingungen garantieren.“ So ungefähr. Klang höchst verlockend. Gerade noch hatte ich meiner Frau erzählt, was für ein Heimweh ich nach Tokio hätte, und wie schade es sei, dass man wegen der Pandemie noch immer nicht einreisen könne. Diese offene Einladung war mit einem Arbeitsvisum verbunden!

Der Brief enthielt Fotos von diesen Toiletten, die wirklich erstaunlich aussahen und alle in Parks eingebettet waren. Es gehe im Prinzip um das Wesen der japanischen Willkommenskultur, hieß es weiter, in der Toiletten einen völlig anderen Stellenwert hätten als im Westen. Da sind in der Tat die „stillen Örtchen“ nicht Teil unserer Kultur, sondern verkörpern eher deren Abwesenheit. Mir gefielen diese architektonischen Meisterwerke in Miniatur, die eher Tempeln glichen als Toiletten, und der künstlerische Aspekt, der das Projekt umgab.

Ich antwortete also: „Ihr Vorschlag interessiert mich. Aber zunächst müsste ich mir ein Bild vor Ort machen. Ich kann mir weder ein Buchprojekt noch Geschichten ausdenken, ohne die Schauplätze zu kennen. Außerdem stecke ich mitten in einem anderen Film. Ich kann Ihnen lediglich eine Woche im Mai anbieten, um mir ein Bild zu machen, und das Projekt dann erst im Oktober realisieren, wenn mein jetziger Film mir ein Zeitfenster während der Postproduktionsphase gibt.“ (Es ging um ANSELM, der sich im zweiten Produktionsjahr und seit über einem Jahr im Schnitt befand.)

Im Mai flog ich nach Tokio. Das war eine wunderbare Jahreszeit, um nach langer Zeit endlich wieder dorthin zu kommen. Meine Erkundungsreise fiel außerdem genau in die Zeit, in der die Tokioter nach einer gefühlten Ewigkeit im Lockdown wieder in die Stadt, in die Straßen und Parks konnten. Es war einfach glorreich, zu sehen, mit welcher Begeisterung und Freude dies geschah, umso mehr, als diese Wiederinbesitznahme mit einer unfassbaren Vorsicht, fast mit Ehrfurcht geschah. Wenn in Berlin, wo ich lebe, öffentliche Plätze unter der Rückkehr zur Normalität enorm gelitten hatten, manche Parks davon nahezu verwüstet worden waren, war es in Tokio umgekehrt der Fall. Die Menschen feierten auch hier, aber im Anschluss daran wurden alle
Flaschen, Tüten, Essensüberreste usw. säuberlich eingesammelt (öffentliche Mülleimer gibt es praktisch nicht) und von allen dann zuhause entsorgt. In europäischen Städten konnte man als Hauptopfer der Pandemie durchaus den Sinn für das Allgemeinwohl ausmachen. In vieler Hinsicht ließ man danach jedenfalls alles, was Allgemeinbesitz war, deutlich mehr verkommen als vorher. Hier in Tokio war es umgekehrt.

Und die kleinen Toilettentempel gefielen mir ungemein, aber gleich vom ersten Eindruck her nicht als Mittelpunkte kurzer Dokumentarfilme. Ich hatte vielmehr große Lust, sie in einen fiktionalen Kontext zu setzen. Ich finde, ‚Orte‘ sind in einer Geschichte, in Spielfilmen, immer besser aufgehoben als in dokumentarischen Formaten. DER HIMMEL ÜBER BERLIN fing ja auch mit der Lust an, diese Stadt mit all ihren Facetten zu zeigen. Aber wenn ich damals einen Dokumentarfilm über Berlin gemacht hätte, wären die Orte des Films nicht so ‚erhalten‘ geblieben, wie es durch die Erzählung der Engelsgeschichte geschehen ist.

Aus dem ursprünglichen Vorschlag standen 4 Kurzfilme mit jeweils 4 Drehtagen im Raum. In diesen 16 Tagen könnte man stattdessen auch einen richtigen Film drehen! In dem würden diese schönen architektonischen Juwelen natürlich vorkommen, aber sie müssten eben nicht die ganze Sache tragen. Das könnte eine Geschichte viel besser. Zu Beispiel mit einer Hauptfigur, die etwas von dem japanischen Sinn für das Gemeinwohl verkörpern würde. Ich hatte am ersten Tag schon die Männer kennengelernt, die sich um die Hygiene der Toiletten kümmerten. So einen könnte ich mir gut vorstellen, einer, der sich verantwortlich dafür fühlen würde, dass diese Orte schön, einladend und sauber blieben…

Meine Idee fand sofort Anklang. Aber war sie umsetzbar? Ich war der festen Überzeugung, dass dies möglich war, wenn wir die übrigen Handlungsorte reduzieren und uns auf eine Hauptfigur beschränken würden. Den Schauspieler dafür galt es zu finden und ein Drehbuch zu schreiben.

Den Autor gab es schon. Seine Augen leuchteten, als ich meinen Plan vorschlug. Es war der Mann, der die Idee ausgeheckt hatte, mich nach Tokio einzuladen. In dem Schriftsteller und kreativen Kopf Takuma Takasaki hatte ich einen großartigen Sparring-Partner und Co-Autoren.

Bevor ich mich versah, gab es auch den Schauspieler. Was hielte ich von Koji Yakusho? Was? Der Koji Yakusho, den ich mehrfach in SHALL WE DANCE oder in BABEL gesehen und bewundert hatte? Ja, genau der. Der würde mitmachen, wenn es zu so einem Film mit mir käme. Das schien zu schön, um wahr zu sein. Am nächsten Tag standen wir uns schon gegenüber, etwas schüchtern noch, und sahen uns in die Augen; einen besseren für diese Rolle gäbe es nicht!

Nach einer Woche war ich zurück in Berlin. Bald darauf kam Takuma nach Berlin. Zwei Wochen später hatten wir die Grundzüge einer Geschichte mit einem Mann namens Hirayama. Der Rest der Arbeit am Drehbuch, an den Drehvorbereitungen und dem Casting ging über die nächsten Wochen und Monate per Mails und Zooms. Und den ganzen Oktober lang war ich dann in Tokio, nach einer Woche intensiver Vorbereitung mit meinem Kameramann Franz Lustig haben wir angefangen, zu drehen. Genau 16 Tage lang. Mehr Zeit hatte Kojo Yakusho auch nicht. Der fing direkt im Anschluss an PERFECT DAYS einen großen Samurai-Film an.

Der Film beschreibt auf beinah poetische Weise die Schönheit des Alltags anhand der Geschichte eines Mannes, der ein bescheidenes, aber sehr zufriedenes Leben in Tokio führt.

Das ist alles aus der Figur Hirayama entstanden, und aus meinem nahezu utopischen ersten Eindruck von Tokio nach der Pandemie. Takuma und ich, wir haben uns jemanden vorgestellt, der einmal privilegiert und wohlhabend war, dann aber von diesem Leben immer weniger erfüllt ist und schließlich voll abstürzt. Eines Tages, am Tiefpunkt seines Lebens, an dem er schon bereit ist, diesem ein Ende zu bereiten, hat er eine Erleuchtung. Als er morgens in  einem schäbigen Hotelzimmer aufwacht, ohne sich zu erinnern, wie er da gelandet ist, starrt er auf die kahle Wand ihm gegenüber. Er empfindet nichts mehr, weder für sich noch für die Welt. Und auf einmal erscheint auf dieser leeren Fläche vor ihm ein Schattenspiel, das von den Sonnenstrahlen hervorgezaubert wird, die irgendwie durch einen Baum bis in sein düsteres Zimmer fallen. Und wie er ungläubig auf diese Erscheinung schaut, diesen Tanz der Blätter im Wind oder besser, die Reflektion dieses flüchtigen Vorgangs, da wird ihm bewusst, dass dies nur für ihn sichtbar ist, für ihn allein, erschaffen von nichts als Blättern, Wind und einer Lichtquelle aus weiter Ferne, aus dem All, von der Sonne. Er hält den Atem an, wie er in sich eine große Wärme aufsteigen fühlt, weil ihm plötzlich bewusst wird, wie einzigartig er selbst und sein Leben ist. Und er murmelt das Wort vor sich hin, dass es in der japanischen Sprache für dieses Lichtspiel der Blätter im Wind
gibt: „Komorebi.“

Die Erscheinung rettet Hirayama und er beschließt, von jetzt an ein von Einfachheit und Bescheidenheit geprägtes Leben zu führen. Er wird zu einem Gärtner und schließlich zu dem ‚Toilettenputzer‘, von dem unsere Geschichte erzählt: hingebungsvoll und zufrieden mit den Dingen, die er besitzt, darunter eine Pocket-Kamera (mit der er nur Bilder von Bäumen und Komorebis macht), die Taschenbücher, die er sich einmal in der Woche gebraucht kauft und sein alter Kassettenrecorder mit der Kassettensammlung, die er aus seiner Jugendzeit hinübergerettet hat. Sein Musikgeschmack inspirierte uns auch zu dem Titel des Films, als nämlich Hirayama eines Tages Lou Reeds Song Perfect Days anhört.

Hirayamas Alltag dient unserer Erzählung als Rückgrat. Das Schöne an diesem monotonen Rhythmus des ‚ewig Gleichen‘ ist, dass man plötzlich beginnt, auf all die kleinen Dinge zu achten, die eben nicht gleichbleiben, sondern sich jedes Mal verändern. Wenn man wie Hirayama tatsächlich lernt, vollkommen im HIER UND JETZT zu leben, gibt es keine Routine mehr. An ihre Stelle tritt die kontinuierliche Aufeinanderfolge einmaliger Ereignisse, einmaliger Begegnungen und einmaliger Momente. Hirayama nimmt uns mit in dieses Reich zufriedener Gegenwart. Und da wir die Welt durch seine Augen sehen, nehmen auch wir die Menschen, denen er begegnet, mit Offenheit wahr: seinen faulen Mitarbeiter Takashi und dessen Freundin Aya, den Obdachlosen, der in dem Park lebt, in dem Hirayama täglich arbeitet, seine Nichte Niko, die bei ihrem Onkel unterschlüpft, seine Schwester Keiko, die dann doch erscheint, um ihre Tochter wieder nach Hause zu holen, ‚Mama‘, die Besitzerin eines klitzekleinen einfachen Restaurants,  das Hirayama an seinen freien Tagen aufsucht, deren Ex-Mann und viele mehr.

Wie kommt es, dass Japan und seine Kultur eine solche Faszination auf Sie ausüben, und welche Aspekte der japanischen Kultur spielten im Rahmen dieses Films eine besondere Rolle?

Der Begriff der ‚Dienstleistung‘ hat in Japan eine völlig andere Bedeutung als bei uns. Am Ende der Dreharbeiten traf ich zufällig einen berühmten amerikanischen Fotografen, der es nicht fassen konnte, dass ich gerade einen Film über einen Mann gedreht hatte, der Toiletten putzt. „Das ist meine Lebensgeschichte! Als ich als junger Mann nach Japan kam, auf der einen Seite, um der Einziehung nach Vietnam zu entgehen, auf der anderen, um asiatischen Kampfsport zu lernen, sagte der Meister zu mir: ‚Wenn du ein Jahr lang täglich öffentliche Toiletten reinigst, kannst du wiederkommen.’ Das habe ich gemacht, bin jeden Tag um sechs Uhr aufgestanden, um in einem der ärmsten Viertel Tokios die öffentlichen Toiletten zu reinigen. Der Meister hat dies aus der Ferne beobachtet und mich dann als Schüler aufgenommen. Aber ich putze bis heute noch einmal im Jahr eine ganze Woche lang Toiletten.“ (Der Mann ist mittlerweile weit über 60 und ist übrigens nie nach Amerika zurückgekehrt.) Aber das ist nur ein Beispiel von vielen. Es gibt andere Berichte über Führungskräfte großer Unternehmen, die den Respekt ihrer Mitarbeiter erst dadurch erwarben, dass sie vor allen anderen zur Arbeit kamen und die Toiletten putzten. Das ist keine ‚minderwertige‘ Arbeit, sondern vielmehr eine spirituelle Haltung, eine Geste der Gleichheit und Bescheidenheit.

Einmal, während eines langen Aufenthalts in Japan, als ich an den Traumsequenzen von BIS ANS ENDE DER WELT arbeitete, besuchte mich ein amerikanischer Freund, der nie zuvor in Japan gewesen war. Es war Winter, und viele Menschen trugen Masken (Das war 30 Jahre vor der Pandemie). Mein Freund meinte kopfschüttelnd: „Fürchten die sich denn alle so vor Keimen?” Ich erklärte ihm: „Im Gegenteil, sie sind alle schon erkältet und wollen ihre Mitmenschen nicht anstecken.” Er sah mich ungläubig an: „Du machst Witze.” Für ihn als Amerikaner war diese hohe Achtung des Allgemeinwohls geradezu unvorstellbar. In Japan ist das selbstverständlich.

Sie sind Tokio und Japan seit vielen Jahren verbunden. Tokio selbst spielt eine große Rolle in Perfect Days, da Ihnen die außerordentliche Chance gewährt wurde, an Orten zu drehen, die normalerweise für Filmarbeiten nicht zugänglich sind. Wie war Ihre Dreherfahrung in Tokio? Und wie hat sich die Stadt seit TOKYO-GA verändert?

Ich liebe Tokio, seit ich mich dort das erste Mal tagelang verlaufen habe. Das war bereits in den späten Siebzigern. Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, wie ich stundenlang in dieser gigantischen Stadt herumgeirrt bin, ohne zu wissen, wo ich mich jeweils befand. Abends bin ich dann immer in die nächstbeste U-Bahn und hab zu meinem Hotel zurückgefunden. Jeden Tag war ich in einer anderen Gegend. Ich war verblüfft, wie chaotisch die Stadt aufgebaut zu sein schien: Viertel mit uralten Holzhäusern inmitten von Wolkenkratzern und stark befahrenden Stadtautobahnen, zwei oder drei Etagen übereinander. Futuristische Gegenden gleich neben beschaulichen Wohnsiedlungen mit Labyrinthen aus winzigen Gassen. Ich war fasziniert von dem friedlichen Miteinander von Zukunft und Vergangenheit, das sich vor mir auftat. Damals kannte ich nur die USA als Ort, an dem man der Zukunft begegnen kann. Hier in Japan bot sich mir eine andere Version, die mir überaus gefiel.

Und dann war ich in meiner Sicht auf Japan sehr durch die Filme von Yasujiro Ozu beeinflusst. Er war (und ist noch immer) mein erklärter Meister, auch wenn ich ihn erst entdeckt habe, als ich bereits selber mehrere Filme gedreht hatte. Er hat uns ein nahezu seismografisches Bild des kulturellen Wandels in Japan übermittelt, von den Zwanzigern bis zu seinem Tod in den frühen sechziger Jahren. Mit TOKYO-GA habe ich 1982 sozusagen versucht herauszufinden, wie weit Tokio sich seit seinem letzten Film 20 Jahre zuvor verändert hatte.

Sie sind für Ihre Art, Musik in Ihre Filme zu integrieren, bekannt. Für Perfect Days haben Sie sich ein ganz besonderes Musikkonzept überlegt.

Eine eigens komponierte Filmmusik schien mir nicht zu unserer Darstellung des Alltags zu passen. Doch weil Hirayama sich immer wieder seine Kassetten mit Musik aus den Sechzigern bis in die Achtziger anhört, liefert sein Musikgeschmack quasi den Soundtrack zu seinem Leben: von Velvet Underground, Otis Redding, Patti Smith, The Kinks, Lou Reed und anderen bis hin zu japanischer Musik aus derselben Zeit.

Der Film ist Ozu gewidmet. Welche Aspekte seiner Arbeit haben Sie am nachhaltigsten beeinflusst?

Vor allem das Gefühl, das alle seine Filme durchdringt: dass jedes Ding und jeder Mensch einmalig ist, dass jeder Moment nur einmal geschieht und dass die alltäglichen Geschichten die einzigen Geschichten von Dauer sind.