Kulturtipp in DNEWS24 von Petra Fritz

Eine Welt für sich und trotzdem mitten im Leben

Vom 09. bis 13.08.2022 empfing die Liederhalle in Stuttgart endlich wieder die internationale Tanzelite. Geschmeidige Körper in wunderschönen Kostümen tanzten zum Rhythmus der Musik von Highlight zu Highlight und setzten nach zweijähriger Corona-Pause in vielerlei Hinsicht neue Akzente. Die perfekte Mischung aus Show und Sport.

Sommer, Sonne und ein bunter Cocktail unterm Sternenhimmel. Dazu eine feurige Salsa oder ein Mambo gefällig? Klingt wie ein verheißungsvoller Traum zu mitreißenden Melodien aus fernen Tagen. Und doch ist dieses kleine „Urlaubsfeeling“ einfach zu haben, denn regelmäßig finden auch in Deutschland z.B. nationale und internationale Tanz-Events statt. Gerade sind in Stuttgart die German Open Championships (GOC) zu Ende gegangen. In den verschiedenen Alters- und Leistungsklassen glühte das Parkett nur so. Als Besucher musste man nichts anderes tun als genau hinzuschauen und bekam obendrein noch die neuesten Mode- und Farbtrends präsentiert. Gerade Eiskunstläufer und Turniertänzer wissen sich nicht nur für den Auftritt perfekt zu stylen, sondern zeigen auch außerhalb der Fläche stets das gewisse Etwas – eine Augenweide. Bei den Turnierkleidern geht es aber nicht nur um die Inszenierung der Optik, sondern auch um das Unterstreichen des Tanzcharakters. D.h. man benutzt z.B. Fransen und Flitter, um Bewegungen schneller oder zackiger aussehen und Federn, um schwingende Bewegungen noch zarter bzw. fließender wirken zu lassen (Rüschen verschlanken Arme und Beine). Alles Kriterien und Nuancen, die – ohne auf das Bewertungssystem näher eingehen zu wollen – mehr oder weniger (in)direkt oder subjektiv in die Bewertung eingehen. Letztlich sind wir alle „nur“ Menschen und niemand urteilt frei von Sympathie und Empfindungen – gerade bei großer Leistungsdichte.

Klein, aber oho

Da kommen schon die Kleinsten in den Altersklassen Junioren (max. 13 Jahre) und Juveniles (max. 11 Jahre) mit schwarzen Anzügen und Rüschenkleidchen in würdiger Haltung daher. Einige mögen diese „kleinen Erwachsenen“ für dressierte Äffchen halten, ich aber habe größten Respekt vor deren Willen und Leistung. Es wäre zu einfach, das alles als unnötig und übertrieben abzutun. Denn wie heißt es so schön: „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmer mehr“. Auch im späteren Leben heißt es sich zu behaupten und durchzuhalten; sein Bestes zu geben. Je nach Disziplin – Latein oder Standard – hüpfen oder gleiten sie also raumgreifend über das Parkett wie die Großen und tun es auch in puncto Mimik Ihren Idolen gleich.

Ich bekomme noch heute Gänsehaut, wenn ich an den Auftritt eines russischen Kinderpaares im Rahmen der Siegerehrung bzw. des Siegertanzes zurückdenke. Das Rund um die Tanzfläche war gut gefüllt und es erklang … „Mambo Nr. 5“; das heißt, das Paar hatte sich seinen Lieblingstanz, einen Jive, dafür ausgesucht. Noch während die kesse Göre zunächst alleine von der Seite her zur Mitte tänzelte, schlitterte der pfiffige Knabe (elf Jahre alt) nach einigen Anlaufschritten auf den Knien mit zurückgelehntem Oberkörper, in die Luft gereckten Armen und verzücktem Blick zirka zehn Meter längs durch den Saal bis zwischen ihre Beine. Mit einem Satz passend zur Musik und einem Augenzwinkern sprang er auf und legte mit seiner Partnerin eine „kesse Sohle“ auf’s Parkett. Ich bin selten sprachlos, da war ich es.

Seit einigen Jahren erfreuen sich auch andere populäre Tanz-Versionen großer Beliebtheit, wie z.B. integratives Rollstuhl-Tanzen oder Boogie-Woogie. Aber Vorsicht, was scheinbar so leicht und locker getanzt wird, ist oft nicht weniger anstrengend und trainingsintensiv. Die coolen Boogie-Woogie-Walks, blitzschnellen Drehs, Hüpfer und Hebungen sind oft nur geschickt verpackt in bunte Hemdblusen und Knickerbocker, überstrahlt von unbändiger Lebensfreude. Das muß man live erlebt haben.

Mann und Frau Seite an Seite, alleine geht’s nicht

Das Programm ist eng getaktet und wechselt von Tag zu Tag. Ich liebe die Vielfalt. Los geht’s mit dem Nachwuchs (Juveniles Standard/ Juniors Latein), gefolgt von A-Klasse Latein, Grand Slam Latein und Standard sowie den World-Championships Boogie-Woogie Juniors. Will heißen, zunächst erklingen Klassiker wie Walzer, Tango, Slow Fox (Viervierteltakt) und Quickstep (Swing, ebenfalls Viervierteltakt).

Die beiden Letzteren sind meine absoluten Lieblingstänze. Als ich noch selbst in einer Latein-Formation (Figuren-Choreographie für 12 Paare zu südamerikanischen Rhythmen) tanzte, bevorzugte ich eher Samba (Zweivierteltakt) und Paso Doble (Zweivierteltakt). In puncto Slow Fox waren seinerzeit fast immer die Briten dominierend. Einmal hatte ich Gelegenheit eine Master-Class, also ein Training von Champions für zukünftige Champs als Zuschauerin zu besuchen. Ein ebenso Denkwürdiges wie lustiges Event mit Christopher Hawkins und Hazel Newberry (heute beide Ende Vierzig). Die beiden gewannen um die Jahrtausendwende im Standardtanzen so ziemlich alles, was es im Tanzsport zu gewinnen gab, waren mehrfache Weltmeister. Nun, Engländer sind immer für eine Überraschung gut und so startete die Stunde mit Chris, der vor sich einen Einkaufswagen auf’s Parkett rollte und damit in graziler Haltung elegant umherschwebte. Als gute drei Minuten später Hazel hinzukam, raunte Chris nur: „Oh Hazel, my wonderful shopping basket“. Ziel der Stunde war das perfekte Dirigieren respektive Navigieren der Partnerin über die i.d.R. mit vielen weiteren (konkurrierenden) Paaren besetzte Fläche. Einfacher gesagt als getan, will man bei Kollisionen nicht aus dem Rhythmus kommen und alle wichtigen Figuren in 90 Sekunden pro Runde programmgemäß zeigen. Sprich: sich von seiner besten Seite bei den am Rand stehenden Preisrichtern präsentieren. Chris Hawkins ist ein wahrer Entertainer. Was folgte war mehr ein humorvolles Schauspiel als eine trockene „Lecture“.

In einem Interview (Auszug aus thefreelibrary 1997) beschreiben sie was man außer Talent und Fleiß so alles mitbringen muss, um im Tanzsport bestehen zu können und die Blicke auf sich zu ziehen. Die beiden sind sicher ein gutes Beispiel dafür, wie Tänzer so ticken und wie wichtig die Partnerwahl ist. Hazel und Chris waren beide 17 als sie sich zum ersten Mal trafen. Es war keine Liebe auf den ersten Blick und doch war die Harmonie sofort spürbar. „Wir haben uns täglich 14 Stunden in den Armen gehalten, weil es unser Job war“. Es muss eine gewisse Anziehungskraft und innige Beziehung da sein, damit ein Tanz gut aussieht, man im Einklang miteinander ist (beide hatten übrigens denselben Kostümschneider wie das berühmte englische (Bolero-)Eistanzpaar J. Torvill/ Chr. Dean). Sich gegenseitig Fehler vorzuwerfen sei sinnlos, stattdessen besser üben, üben, um die gewünschte Perfektion zu erreichen. Es dauerte vier Jahre, bis sie auch ein Liebespaar wurden. Hazel schätzt seinen Humor über alles. Chris sagt über Hazel: „Sie ist eine nette, sanfte Person – sie erträgt mich“.

An dieser Stelle sei gesagt, dass im Tanzsport noch Raum für Geschlechterparität ist. Hier wird der Mann noch immer zuerst genannt; die Frau manchmal gar nur beim Vornamen. Es geht offenbar auch ohne zwanghaftes Gendern.

Live ist Life – Sehen und gesehen

Nun aber geht’s in medias res. Kaum hat man das Foyer betreten, herrscht ein unglaubliches Gewusel. In einer Ecke werden zum Aufwärmen noch die letzten Figurensequenzen geprobt, an anderen Stellen sind Verkaufs- und Verpflegungsstände aufgebaut, Zuschauer suchen nach den letzten freien Sitzplätzen. Von überall her klingt Musik. Die herkömmlichen Opernmelodien haben ausgedient, stattdessen sind frische französische Chansons und Musettewalzer zu hören. Für einen Moment schließe ich die Augen und fühle mich 40 Jahre zurück, als ich vor Wettkämpfen tausende von Pailletten zur Ergänzung selbst auf meine Kürkleider genäht habe. Heute ist das Sortiment an Stretch- und Pailettenstoffen sowie fertigen Tanz-Kostümen unendlich vielfältig. In herkömmlichen Geschäften shoppe ich bis heute wenig, aber hier lacht angesichts des Angebots mein Herz. Viele Dinge kann man nämlich gut für den Alltag zweckentfremden. Wie z.B. transparente, rutschfeste Absatzschoner, federleichte Schuhe oder originell schräg geschnittene Volanttrikots etc.

Selbstverständlich gibt es auch Makeup- und Frisurentipps. Glänzender Haarlack zur optimalen Fixierung ist und bleibt in allen Altersklassen (bei Männlein und Weiblein) Trumpf. Dasselbe gilt für den Bronzetouch aus der (Bodypaining)-Sprühpistole.

Kaum habe ich Platz genommen, starten auch schon die Jüngsten. Eine begeisterte Mutter drückt mir für das anstehende Finale spontan eine litauische Flagge und einige Fähnchen zum Anfeuern ihres Paares in die Hand. Sie weiß: „Klappern gehört zum Handwerk“. In der Tat zählen Litauen, Rumänien und Moldawien in Abwesenheit von Russland mittlerweile zu den führenden Tanznationen. Insgesamt sind mehr als 50 Nationalitäten vertreten; selbst Länder wie Malaysia, Usbekistan und Lesotho sind dabei. Kein Wunder, dass die Turniersprache Englisch ist. Bei der nächsten Gruppe wird es unübersichtlich, denn 98 jugendliche Lateinpaare flirten mit dem Publikum und wetteifern um Aufmerksamkeit und Gunst der Schiedsrichter. Es finden pro Tanz also mehrere Runden mit je 12 Paaren statt. Jedes Mal haben die Preisrichter nur 90 Sekunden Zeit die Spreu vom Weizen zu trennen. Das klingt hart, ist aber so. 90 Sekunden, in denen bis zur Erschöpfung – über einen ganzen Tag hinweg – von der Vorrunde bis zur Endrunde – mal mit einem Lächeln, mal mit Drama-Miene – alles gegeben wird. Mehrere Stunden lang über alle Qualifikationsrunden bis hin zur „final heat“ nicht nur Leidenschaft zu zeigen, sondern die physische und mentale Spannung zu erhalten, ist eine Herausforderung. Vor jeder Wertungsrunde macht sich neben Erschöpfung zudem Nervosität breit. Meine persönliche Entdeckung hier heißt David Babel, obwohl das tschechische Couple nur 33. wurde. Sieger in dieser Klasse wurden die Deutschen Kalistov/ Albanese. Insider wissen natürlich, daß Luna-Marie die Tochter von Roberto Albanese (!) Grün-Gold Bremen ist.

Die Veranstaltungshallen Hegelsaal, Beethovensaal und die architektonisch phantastische Alte Reitschule sind brechend voll, aber alle gehen rücksichtsvoll und höflich miteinander um. Plötzlich wird es laut, denn eine Fan-Gruppe gelb-blau gekleideter Schweden zieht per Polonaise ein. Es steht also eine weitere Runde Boogie-Woogie auf dem Programm. Das perfekt organisierte Sicherheits- und Organisationsteam (rund 450 Ehrenamtler) läßt sie mit Augenmaß gewähren. Die Stimmung beginnt zu brodeln und Eingeweihte setzen sich bevorzugt auf den Boden unmittelbar an der Tanzfläche. Jetzt heißt es „We will rock you“ und in der Tat geht’s zu munter Swingmusik rund. Da zuckt es einem in den Füßen und die Hände beginnen automatisch zu schnippen. Herrlich! Nach nur wenigen Stunden GOC fühlt man sich um Jahre jünger. Gott sei Dank war auch die Klimaanlage etwas in Funktion. Wie auch immer, der WM-Titel geht hier an Italien, ich hätte die zweitplatzierten Franzosen Vitrani/ Legros knapp vorne gesehen. Es ließe sich noch viel berichten, aber nichts geht in dieser Sportart über die Live-Atmosphäre – „da steppt der Bär“, da fliegen auch mal Schuhe und Maskottchen durch die Luft. Die Top-Paare wirbeln teils mit derart viel Schwung und Dynamik an einem vorbei, daß ein regelrechter Luftzug entsteht. Einfach mal für’s nächste Jahr die Woche vom 15.- bis 19.08. vormerken, wenn wieder GOC-Showtime ist. Als ich die Liederhalle an diesem lauen Sommerabend schließlich verlasse, funkeln tatsächlich schon die Sterne und für einen Moment scheint die Welt wieder im Einklang.

An dieser Stelle sei angemerkt, dass auch bei dieser Meisterschaft (analog anderer Sportarten) die russischen Sportler von einer Teilnahme ausgeschlossen waren. Ich teile diese „Sippenhaft-Regelung“ grundsätzlich nicht, was Jugendliche bzw. Sportler im Amateurstatus angeht. Bei Profis mag man so verfahren, aber pauschal werden so zweifelsohne die Falschen „bestraft“, nur weil sie zufällig in diesem Land geboren sind. Dieses Vorgehen schürt m.E. eher weiteren Hass als Hoffnung auf Einsicht und Wandel. Zudem sind russische Tänzer*innen im Tanzsport wie im Eissport seit Jahrzehnten überdurchschnittlich erfolgreich vertreten. Geht man die Teilnehmerlisten durch, finden sich seit Jahren überdies viele russische Namen, die „per Outsourcing“ als Dame oder Herr für andere Nationen an den Start gehen und vom Embargo ausgenommen sind. Ohne Frage ein leidiges Thema.

Wer seinen Titel verteidigen konnte und in welchen Klassen neue Meister gekürt wurden, kann gerne unter goc-stuttgart.de nachgelesen werden.

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