„Du sollst Vater und Mutter ehren …“

Respekt und Achtsamkeit zwischen den Generationen wünscht sich Dr. Stephanie Robben-Beyer.

Es ist eine Binsenweisheit: Altern ist eine Grunderfahrung des Menschen.

Doch wie damit umgehen?

Ist es klug, sich schon jung mit dem Thema auseinander zu setzen?

Ist es sinnvoll, der älteren Generation mit Wertschätzung und Respekt zu begegnen?

Ist es schlau, von den Älteren lernen zu wollen?

Charlotte besucht am Mittwochnachmittag – wie stets – ihre Großeltern.

Die Oma hat Kuchen gebacken und alle drei sitzen gemütlich beisammen, genießen Kaffee, Kakao und Kuchen und reden über dies und das.

Charlotte erzählt ein paar Episoden der letzten Schul-Woche und kommt dann auf eine Diskussion zu sprechen, die sie heute mit ihrem Klassenlehrer und den Klassenkameraden geführt hat.

„Justin meinte, es sei total altmodisch im Bus aufzustehen, wenn ein alter Mann den Bus beträte und keinen Platz fände.“

Ron habe ihm zugestimmt und eine Diskussion über das sechste Gebot initiiert.

„Ron findet das total veraltet und uncool. Er hat gesagt, dass er seine Eltern nicht ehren müsse. Im Gegenteil die fänden das total modern, dass sich in der Familie alle eher freundschaftlich begegnen.“

„Meine beste Freundin Jade hingegen kennt es von zu Haus, dass der Papa der Chef ist und alle großen Respekt vor ihm haben.“

Charlotte murmelt nachdenklich, dass sie nun gar nicht wisse, was sie denken solle.

Einerseits wolle sie natürlich nicht uncool sein, andererseits

„finde ich schon, dass Mama und Papa – hm, ihr ja auch, klar – meinen Respekt verdient habt. Ich mein, ihr seid ja viel älter als ich und habt viel erlebt. Opa ja sogar noch den Krieg. Und dann wisst ihr natürlich irgendwie auch mehr als ich.

Ich meine, ihr wisst andere Sachen. Mit Computer und so kenne ich mich natürlich total viel besser aus als ihr!“

Charlotte grinst breit.

Oma und Opa schauen sich an.

Charlotte kennt diesen besonderen Gesichtsausdruck von Opa.

Er hat oft als Erklärung, quasi als Antwort eine Geschichte parat.

Charlotte liebt Opa s Geschichten. Die sind wie Fabeln. Es gibt immer eine sehr gute Auflösung und jeder kann sich irgendwie darin widerfinden.

Opa beginnt zu erzählen:

„Es wird erzählt, dass in einem entlegenen Bergdorf einstmals ein Volk seine alten Männer zu opfern und dann zu essen pflegte

Es kam der Tag, an dem kein einiger alter Mann übrig war und die Überlieferungen verloren gegangen waren.

Nun wollten sie ein großes Haus für die Versammlungen ihres Rates bauen, aber da sie die Baumstämme betrachteten, die für diesen Zweck geschlagen worden waren,

konnte keiner sagen, was unten und was oben war:

Würden nämlich die Balken verkehrt herum aufgestellt,

würde das eine ganze Kette von Verhängnissen auslösen.

Ein junger Mann sagte, er könne wohl eine Lösung finden,

wenn sie versprächen, keine alten Männer mehr zu essen. Sie versprachen es.

Er führte seinen Großvater herbei, den er versteckt gehalten hatte;

Und der alte Mann sagte der Gemeinschaft,

wie man das obere vom unteren Ende unterscheiden kann.“

(Amselm Grün; Die hohe Kunst des Älterwerdens; dtv; 2019; S. 7 – Balinesische Legende)

Charlotte schaut sehr nachdenklich.

Ihre Oma neigt sich zu ihr:

„Weißt du, Lotte, Opa s Geschichte ist sicher ein bisschen heftig.

Doch der Sinn dieser Erzählung ist ja, deutlich zu machen, dass wir alle älter werden und dass es dann gut ist, dass jung und alt miteinander gut auskommen.

Wir können voneinander lernen.

Und das sollten wir auch tun.

Gemeinsam können wir stark sein – sehr stark.“