Die Tafeln in Köln-Porz: Wahrheiten, bei denen der deutsche Staat gern wegsieht

Die Zahl der Rentner unter den Tafelkunden ist innerhalb eines Jahres um 20 Prozent auf 430.000 gestiegen. Vor 2 Jahren verhängte die Tafel in Essen einen Aufnahmestopp für Ausländer. Der Andrang war zu groß geworden, hilfsbedürftige ältere Deutsche hatten Angst und blieben fort. Wie ist die Situation zwei Jahre später? Eine Reportage aus Köln-Porz in der Advents-Zeit 2019 von Sascha Rauschenberger.

In Deutschland nutzen immer mehr Menschen die Lebensmitteltafeln, darunter eine stark steigende Zahl Älterer. Die bundesweit etwa 940 Tafeln verzeichneten aktuell 1,65 Millionen Kunden. Das sagte der Bundesverbandsvorsitzender Jochen Brühl der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. „Das sind 10 Prozent mehr als im vergangenen Jahr.“ Zum Vergleich: die Stadt München hat 1,45 Millionen Einwohner, das Land Mecklenburg-Vorpommern 1,61 Millionen.

Besonders groß sei die Nachfrage älterer Menschen. „Die Zahl der Rentner unter den Tafekunden ist innerhalb eines Jahres um 20 Prozent auf 430.000 gestiegen.“ Das berichtet das Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND.de).

„Deutschland, ein Land in dem wir gut und gerne leben“, sagte Frau Dr. Angela Merkel im Wahlkampf und meinte es in Bezug auf Deutschland wohl auch so. Nur können zunehmend immer weniger Menschen hier gut leben. Ob sie es gerne tun, könnte als fraglich bezeichnet werden.

Für viel zu viele bedeutet es jedenfalls, dass am Ende ihres Lebens oft nur noch der Weg in die Armut bleibt. Bleiben wird. Erste Pensionskassen kürzen aufgrund jahrelanger EZB-Null-Zinspolitik nun ihre Zahlungen (siehe Focus: Pensionskassen kürzen Zahlungen: Was das für Ihre Rente bedeutet.) Lebensversicherer stehen vor dem Aus. So ist neben der bröckelnden Rente nun auch die private Altersvorsorge kurz vor dem Kollaps. Und das in Zeiten, wo ohnehin vieles unsicherer wird. Eigentlich wird klar, dass der angenommene Wohlstand an reichlich vielen Prämissen hängt. Und viele dieser Voraussetzungen waren nie und sind jetzt schon mal gar nicht mehr gegeben. Und an der Stelle muss noch nicht mal Pech im Spiel gewesen sein, um in die Altersarmut zu rutschen.

Die Tafeln in Deutschland versorgen die, über die man ungern in den Medien berichtet. Diejenigen, deren Rente/Einkommen nicht reicht. Oder nach dem Tod eines Ehepartners nicht mehr reicht. Oder die, die Unfälle hatten. Oder alleinerziehende Mütter. Kurz die, die man gern übersieht. Wo man auch gar nicht so genau wissen will, wie die zurechtkommen. Zumal hunderttausende Rentner mit Minirenten aus Scham nicht aufstocken, sondern sich auch mal durchhungern. Von Monat zu Monat. (siehe Focus: Aus Scham:Die meisten armen Rentner verzichten auf staatliche Hilfen und viel Geld.)

So öffnet auch einmal die Woche die Verteilerstelle Köln Porz ihre Pforten. 25 ehrenamtliche Helfer, deren Altersdurchschnitt 72 (!) ist, schuften von sieben Uhr morgens beginnend bis zum Abend, um an bis zu hundert bedürftige Gästen und ihren Familien Lebensmittel auszuhändigen, die Unternehmen, Discounter und Händler gespendet haben.

Hunderte Kilo Waren werden von älteren Menschen mit teilweise zittrigen Händen unter großen Mühen sortiert, aufbereitet, umgepackt und vorgehalten. Noch bevor der erste Gast kommt. Junge Menschen, Aktivisten, sieht man nicht. Darauf angesprochen lachte man. Das wäre doch Arbeit. Dafür findet sich niemand.

Ein IT-unterstütztes Erfassungssystem der Marke Selbsthilfe, basierend auf den Angaben der Sozialscheine der Stadt Köln, mit Bezugsausweisen und Ausgabeprocedere, garantiert eine faire und zügige Ausgabe an die Gäste. Der Erfinder dieses „(teil)digitalisierten Wunders“ ist 74, wiegt 148 Kilogramm und schafft keine 200 Meter gehend am Stück ohne Schmerzen. Dennoch ist er überall dort, wo eine Hand gebraucht wird.

Dass sich das Publikum stark verändert hat wird auch gesagt. Umständlich verklausuliert in pc-gemäßer Sprache und dem Schreckgespenst Essener-Tafeln im Hinterkopf (siehe auch ein früherer Artikel des Autors dazu: Tischlein deck dich! – oder ist es doch nicht so einfach?) Ja, vor ein paar Jahren waren da viel mehr deutsche Senioren. Doch dann begann die Phase der „jungen Männer“ und seitdem kämen mit Masse nur noch zugewanderte Gäste, deren Art von „zivilisiertem Verhalten“ oft nicht dem entspräche, was die Einheimischen gewohnt seien. So zeigte eine Frau während des Besuchs der Tafel in Köln-Porz wenig Rücksicht oder gar Einsicht in das Verteilungsprocedere. Sanktioniert wird wie auf dem Fußballfeld. Gelbe und rote Karten. Andere Handhaben hat der zivile Verein nicht.

Andere sind Mitte der 90er Jahre nach Deutschland gekommen, arbeiteten zwanzig Jahre und jetzt, wo sie älter sind, reicht die Rente nicht zum leben. Vorhersehbar könnte man sagen. Das sind dann die Momente, wo man gern mal seine Notizen sortiert, damit die Menschen Zeit haben die Tränen unauffällig wegzublinzeln.

Ein anderer ist seit zwei Jahren arbeitslos. Natürlich älter als 30, ein Alter, in dem es in Deutschland dann gemeinhin schwieriger ist, einen Job zu finden. 47 Beitragsjahre sind gesetzlich angedacht, aber diese in einem ordentlich bezahlten Job zu erreichen ist schwer. Das schafft natürlich Potential für das Gästekonzept der Tafeln. Und deren ehrenamtliche Mitarbeiter, die deutlich älter als 30 sind. Spätestens hier platzt die eine oder andere Denkblase unserer Politiker sichtbar. Entlarvt sich als Schwachsinn.

Es kommt eine junge Ärztin, die aber noch diverse Scheine neu machen muss, damit sie hier als Medizinerin anerkannt wird. Ja, selbst wirkliche Fachkräfte, die wir hier brauchen und wirklich haben wollen, benötigen die richtigen Zertifikate. Und bis sie diese haben, stehen sie dann bei den Tafeln. Wenn es nicht so traurig wäre, müsste man Lachkrämpfe bekommen.

Dann ist da die junge Afghanin mit Kind. Alleinstehend und unter widrigen Umständen den Taliban entkommen. Diese könnten theoretisch auch in der Schlange stehen, da Taliban in Deutschland Asyl bekommen. Besser nicht darüber nachdenken, sagt man sich in solchen Momenten.

Misstrauische Blicke auf Seiten derer, die man früher zum „Fahrenden Volk“ zählte. Die fahren auch wieder. Sobald sie bei der Tafel fertig waren wurden zwei Damen mit dem Auto abgeholt. Den Kofferraum prall gefüllt. Natürlich ein Einzelfall. Schließlich sah man nur diesen einen Wagen bis zur Tür der Ausgabestelle vorfahren. Diese Einzelfallstatistik wird oft bemüht.

So stehen sie alle an. Es regnet. Die Temperatur im Dezember 2019 ist in Köln eisig. Ältere Gäste haben Probleme mit den erkalteten Gelenken. Jeder hat seine Rolleinkaufstasche oder große Packtaschen dabei. Sie wissen, dass es hier nur einmal pro Woche etwas gibt. Doch jeder weiß, dass hier keiner abgewiesen wird, solange er seine Bedürftigkeit nachweisen kann. Mit dem Sozialschein der Stadt. Nur werden registrierte Gäste anderen Besuchern vorgezogen, bis diese durch sind, dann kann jeder Ware empfangen, gemäß der Wartenummer, die jedem bei Ankunft zugeteilt wird. Ausnahmen werden nur bei Leuten gemacht, die behindert oder krank sind und das oft stundenlange Ausharren nicht mehr schaffen.

Im Ausgaberaum ist es ruhig. Jeder Gast bekommt einen Begleiter, der mit herumgeht und gemäß der Familiengröße benötigte Waren austeilt. Schließlich muss das, was da ist, für alle und bis zum Schluss reichen. Ein rhetorischer Balanceakt, der nicht immer gelingt und auch zu Ärger führen kann. Dennoch bleibt es heute, am St. Nikolaustag, ruhig. Es wurden auch Blumensträuße gespendet. Ein kleines Mädchen fragt, ob sie einen haben dürfte. – Für ihre Mutter.

Armut kann schneller kommen als man denkt. Manchmal reicht es auch, sich verplant zu haben. Oder die Spielregeln werden verändert, ohne dass man seinen Plan angepasst hat. Oder es passiert ein Unfall. Oder die EZB fährt die Zinsen so lange runter, bis Inflation und andere Nettigkeiten die Altersvorsorge aufgefressen haben. Still und heimlich. Dann steht man da. Bei den Tafeln. Die Folgen der Altersarmut sind hier beschrieben: https://conplore.com/stresstest-altersarmut-in-deutschland-wirtschaftliche-soziale-und-politische-folgen/. Man sollte ruhig erwähnen, dass 23 der 25 ehrenamtlichen Helfer selbst auf Unterstützung angewiesen sind. Selbst Hilfe empfangen. Wie auch ein Marokkaner, der mit seiner Frau dort mithilft und das Management im Ausgaberaum führt. Sie sind die beiden Jüngsten im Team, die den Altersdurchschnitt deutlich gedrückt haben.

Einige der Gäste helfen mit, wenn ein neuer Transporter kommt. Aber die Masse der dort Wartenden könnte als „inaktive Empfängergestalten“ bezeichnet werden, die meinen, es wäre ihr Recht dort etwas zu bekommen. Eine Mentalität, die vor ein paar Jahren auch anders war. Dennoch hört man vereinzelt ein schlichtes „Danke“. Mitunter auch herzliche Verabschiedungen. Man kennt sich. Das ist schön. Nur fragt man sich als normal denkender Mensch, ob man sich darüber wirklich freuen kann. In einem Land, das gern mal für ein Klima auf die Straße geht, das von hier und durch uns allein nicht zu retten ist, aber dann so viele bedürftige Menschen auf die Hilfe eines Vereins (!!!) angewiesen sein lässt. Wo man mal eben Milliarden für weitere Flüchtlinge bereitstellt, und diese dann auch in die Schlange der Tafeln stellt, weil sie hier beruflich chancenlos sind. Andererseits werden aber diese Tafel-Vereine durch die Stadt in keinster Weise gefördert. Finanzämter versuchten sogar, Lebensmittelspenden beim Spender zu besteuern! (sic!) Wäre doch mal nett, wenn man als Kommune diesen Menschen, die die Tafeln betreiben, beispielsweise zu Weihnachten, mal ein wirklich gutes Essen spendiert. Wäre doch anständig, auf diese Weise als Kommune einmal DANKE zu sagen. Zumal diese Leute selbst auch nicht gerade aus Langeweile wie der örtliche Rotary- oder Lions-Club gemeinnützig tätig sind. Selbst auch Not leiden. Andererseits ist das Talergrab Kölner Oper mit über 700.000.000 Euro noch unterfinanziert. Schwerpunkte machen Sinn. Armut ist gestaltbar. Als Bürger der Stadt Köln und als Mensch möchte ich mich hier an dieser Stelle bei den netten Mitmenschen der Tafeln in Köln-Porz ausdrücklich für ihr Engagement bedanken. Für ihr aufopferungsvolles Tun, selbst im hohen Alter noch helfen zu wollen. Selbst mit schwindender Kraft, zitternden Händen und schmerzenden Gliedern. Dort zu stehen, wo keine Kamera ist, die Medien nicht auf den neuen Messias warten und junge Aktivisten lieber fern bleiben.

Ich wünsche daher diesen lieben Menschen viel Kraft, ein gesegnetes Fest und einen guten Rutsch ins Neue Jahr. Leider ahne ich, dass sie nächstes Jahr noch viel mehr gebraucht werden…