Deutschem Lebensversicherungsmarkt steht Umbruch bevor

Der deutsche Lebensversicherungsmarkt steht vor einem weiteren Umbruch. Auslöser ist die nächste Absenkung des Höchstrechnungszinses, die im kommenden Jahr geplant ist.

Eine völlige Änderung der Verhältnisse im Lebensversicherungsmarkt sieht Dr. Christian Thimann, CEO der Athora Deutschland Gruppe, im Gespräch mit dem Deutschen Institut für Altersvorsorge (DIA). „Die neuerliche Absenkung stellt die Beitragsgarantie in Frage. Daher entsteht daraus so viel Handlungsdruck. Zwischen 0,9 Prozent wie bisher und 0,5 oder gar 0,25 Prozent künftig liegt rein rechnerisch kein allzu großer Unterschied, könnte man meinen. Aber mit einem Rechnungszins von 0,9 Prozent lässt sich gerade noch eine 100-Prozent-Beitragsgarantie darstellen. Mit 0,5 Prozent oder weniger können Versicherer bei den anfallenden Kosten diese Beitragsgarantie nicht mehr aufrechterhalten“, erklärte Thimann.

Athora, ein Versicherungs-Unternehmen, das von anderen Lebensversicherern bestehende Verträge übernimmt, beobachtet eine zunehmende Offenheit für externe Lösungsmöglichkeiten. „Unternehmen, die neues Kapital bereitstellen, sind im Markt willkommen“, so Thimann. Allerdings brauchen die Entscheidungen zu Übertragungen nach seiner Erfahrung viel Zeit. „Die Versicherer überlegen sich das sehr gründlich.“

Die Beurteilung, wie groß das Potential für Bestandsübertragungen in Deutschland ist, falle allerdings schwer. „Es gibt 80 Lebensversicherungen und 130 Pensionskassen. Einige von ihnen stehen unter verschärfter Beobachtung der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht. Die Situation ist daher heterogen. Einige Unternehmen haben sich wieder stabilisiert. Sie haben sich erfolgreich im Neugeschäft den fondsbasierten Produkten zugewandt oder die Kosten erheblich gesenkt. Andere wiederum beschäftigt die Frage, wie sie mit ihren Altbeständen am besten umgehen, vor allem wenn kein Neugeschäft mehr geschrieben wird“, skizzierte Dr. Christian Thimann die Situation.

Er schätzt, dass sich ein Viertel bis ein Drittel der Versicherer ernsthaft Gedanken darüber machen muss, wie es mit den Altbeständen weitergeht. Das müsse nicht unbedingt ein Verkauf oder eine Bestandsübertragung sein. „Auch eine interne Lösung oder eine Kapitalverstärkung kommen in Frage. Allerdings sind diese Lösungen häufig sehr kostspielig und stehen manchmal im Widerspruch zu notwendigen Investitionen in Neugeschäft“, erklärte Thimann.

Welche Trends dominieren Ihrer Beobachtung nach derzeit den Markt der Lebensversicherungen und Pensionskassen?

Dr. Christian Thimann: Momentan sehe ich drei große Themen. Erstens die Sorge um die Mitarbeiter in der Corona-Krise. Alle Versicherer mussten auf Home-office umstellen und die neuen Hygiene- und Kontaktbeschränkungen umsetzen. Zweitens die Frage, wie geht es im Neugeschäft weiter? Durch die Einschränkungen der persönlichen Vertriebskanäle ist es eine Herausforderung, Wachstumsziele einzuhalten. Drittens die Kapitalanlage und die Situation an den Finanzmärkten. In den letzten Jahren hatte sich der Aktienmarkt über weite Strecken sehr positiv entwickelt. Aktien schienen als langfristiges Investment die passende Anlage für die Altersvorsorge zu sein. Dann kam mit der Krise ein gewaltiger Einbruch, der sich zwar in Teilen wieder etwas korrigiert hat, aber die eigentliche realwirtschaftliche Belastung steht noch aus.

Wie wirkt sich diese Situation auf Ihr Geschäftsfeld aus? Kommt es eher zu einer Beschleunigung beim Verkauf von Verträgen an Bestandsversicherer oder stellen die Unternehmen solche Entscheidungen zunächst wegen anderer drängender Probleme erst einmal zurück?

Dr. Christian Thimann: Im Augenblick trifft sicherlich eher Letzteres zu. Aber die Thematik bleibt virulent. Unternehmen, die neues Kapital bereitstellen, sind im Markt willkommen. Entscheidungen zu Übertragungen brauchen zudem viel Zeit. Die Versicherer überlegen sich das sehr gründlich. Unser Geschäftsmodell bleibt trotz Krise intakt, zumal wir spüren, dass sich bei den Lebensversicherern zunehmend eine Offenheit für externe Lösungsmöglichkeiten entwickelt.

Wie groß schätzen Sie das Potential für Bestandsübertragungen in Deutschland ein?

Dr. Christian Thimann: Eine solche Beurteilung fällt schwer. Es gibt 80 Lebensversicherungen und 130 Pensionskassen. Einige von ihnen stehen unter verschärfter Beobachtung der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht. Die Situation ist daher heterogen. Einige Unternehmen haben sich wieder stabilisiert. Sie haben sich erfolgreich im Neugeschäft den fondsbasierten Produkten zugewandt oder die Kosten erheblich gesenkt. Andere wiederum beschäftigt die Frage, wie sie mit ihren Altbeständen am besten umgehen, vor allem wenn kein Neugeschäft mehr geschrieben wird.

Daher führen wir nach wie vor viele Gespräche mit Versicherern über eine mögliche Rückversicherung oder Bestandsübertragung. Aber welche Bestände in Summe tatsächlich dafür in Frage kommen, lässt sich schwer quantifizieren. Ein Viertel bis ein Drittel der Versicherer muss sich wahrscheinlich ernsthaft Gedanken darüber machen, wie es mit den Altbeständen weitergeht. Das muss nicht unbedingt ein Verkauf oder eine Bestandsübertragung sein. Auch eine interne Lösung oder eine Kapitalverstärkung kommen in Frage. Allerdings sind diese Lösungen häufig sehr kostspielig und stehen manchmal im Widerspruch zu notwendigen Investitionen in Neugeschäft.

Welche Rolle spielt dabei die weitere Absenkung des Höchstrechnungszinses, die im nächsten Jahr ansteht?

Dr. Christian Thimann: Die neuerliche Absenkung stellt die Beitragsgarantie in Frage. Daher entsteht daraus so viel Handlungsdruck. Zwischen 0,9 Prozent wie bisher und 0,5 oder gar 0,25 Prozent künftig liegt rein rechnerisch kein allzu großer Unterschied, könnte man meinen. Aber mit einem Rechnungszins von 0,9 Prozent lässt sich gerade noch eine 100-Prozent-Beitragsgarantie darstellen. Mit 0,5 Prozent oder weniger können Versicherer bei den anfallenden Kosten diese Beitragsgarantie nicht mehr aufrechterhalten. Daher stehen wir derzeit vor einem weiteren Umbruch im Lebensversicherungsmarkt.

Wie ist das zusätzliche Kapital zu bewerten, das Bestandsversicherer ins Land bringen? An Kapital, das nach Anlagemöglichkeiten sucht, herrscht doch eigentlich kein Mangel.

Dr. Christian Thimann: Natürlich suchen die deutschen Versicherer händeringend nach Anlagemöglichkeiten. Aber die Bereitschaft, nach der globalen Finanzkrise, nach der Euro-Krise und nach der Corona-Krise Risiken einzugehen, ist geringer und geringer geworden. Das Drama besteht doch darin, dass es die aus früheren Zeiten gewohnte Kombination von Sicherheit und Rendite nicht mehr gibt. Daher ist es gut, dass nicht nur zusätzliches Kapital ins Land kommt, sondern auch Know-how.

Die Bestandsverkäufe betrafen bislang die klassischen Lebensversicherer. Pensionskassen stehen aber ebenso vor gewaltigen Herausforderungen. Werden die Bestandsversicherer in naher Zukunft zunehmend auch Pensionskassenverträge übernehmen?

Dr. Christian Thimann: Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort. Die Laufzeiten der Verträge in der betrieblichen Altersversorgung sind deutlich länger. Es muss also eine viel längere Duration, sprich Kapitalbindung, in Kauf genommen werden. Damit sind aber in der Regel auch die Durationslücken zwischen Verpflichtungen und Kapitalanlage größer. Außerdem gibt es in der betrieblichen Altersversorgung viel weniger Diversifikation über verschiedene Produkte als in einem üblichen Lebensversicherungsbestand. Es handelt sich um ein junges Geschäft im Vergleich mit den klassischen Lebensversicherern und um wenige Produktlinien, die alle auf die Altersversorgung ausgerichtet sind. Das bedeutet, dass Fragen der Sterblichkeitsentwicklung und der Laufzeitenabsicherung noch stärker ins Gewicht fallen. Diese Unterschiede machen Übernahmen bei Pensionskassen, die eigentlich wegen der größeren Probleme in diesem Bereich geboten wären, viel schwieriger.

Bestandsversicherer sind durch ihr Geschäftsmodell gezwungen, immer aufs Neue Bestände zu akquirieren. Das zieht aber ständig neuen Migrationsaufwand nach sich. Wirkt das nicht diametral den Kosteneinsparungen in der Verwaltung entgegen, die Bestandsversicherer als eine ihrer Stärken herausstellen?

Dr. Christian Thimann: Bestandsversicherer müssen nicht alle paar Monate neue Bestände erwerben, da die Laufzeiten der übernommenen Verträge sehr lang sind. Die Schrumpfung der Bestände geschieht daher nur langsam. Das heißt, Kostendruck ist da, aber nur auf lange Sicht. Andererseits ist dies genau eines der Risiken, die ein Bestandsversicherer bewusst eingeht. Sinkt die Zahl der Verträge, weil sie auslaufen, verteilen sich die Fixkosten auf eine geringere Vertragsanzahl. Ein Bestandsversicherer will also langfristig weiter zukaufen. Aber er muss nicht zwangsläufig migrieren. Er kann die Verträge auch auf den bestehenden Systemen belassen. Das ist bei einigen Bestandsversicherern derzeit der Fall. Dennoch entstehen erhebliche Synergien, beispielsweise im Asset Management oder im Kundendienst. Die Kosten einer Migration sind immer abzuwägen mit den Vorteilen, die sich aus einem einheitlichen Bestandsverwaltungssystem ergeben.

Wer nicht migriert, kann aber auch nicht mit unterdurchschnittlichen Verwaltungskosten aufwarten.

Dr. Christian Thimann: Für Athora stand das bisher auch nicht im Vordergrund. Die Basis unseres Geschäftsmodells ist ein ausgefeiltes Asset Management. Gerade in Zeiten niedriger Zinsen ist ein solches Asset Management entscheidend, um angemessene Renditen zu erwirtschaften. Andere Bestandsversicherer verfolgen dazu eine etwas andere Strategie und haben zu diesem Zweck viel investiert. Sie werben mit ihrer effizienten Plattform, um Kostenvorteile zu generieren, und akquirieren mit diesem Argument neue Bestände.

Werden sich die Bestandsversicherer mit ihrer bisherigen Rolle begnügen oder vielleicht doch irgendwann das Neugeschäft für sich entdecken? Schließlich verfügen sie regelmäßig über eine große Zahl von Kunden, die Kapital aus auslaufenden Verträgen besitzen, das neu angelegt werden kann.

Dr. Christian Thimann: Theoretisch wäre es denkbar, dass Bestandsversicherer mit ihren Kunden früher oder später auch Neugeschäft machen. Aber sie sind eine andere Art Unternehmen als die klassischen Versicherer mit stetem Neugeschäft. Letztere sind immer vom Vertrieb dominiert, auf ständiges Wachstum getrimmt. Neue Produkte und neue Kundensegmente binden enorme Ressourcen bei diesen Versicherern. Ein Bestandsversicherer hat all das nicht. Er verfügt über einen abgrenzbaren Kundenbestand. Das ist durchaus von Vorteil. Zum Beispiel kann die Laufzeit der Kapitalanlage genau daran ausgerichtet werden. So entsteht bei Bestandsversicherern auch eine besondere Unternehmens-DNA. Ein Wechsel hin zu echtem Neugeschäft über Neueinzahlungen in bestehende Verträge hinaus wäre daher in der Praxis gar nicht so einfach. Er steht derzeit auch nicht auf der Agenda der Bestandsversicherer hierzulande. Für den Markt insgesamt ist es meiner Meinung nach sogar gut, wenn zwei solch unterschiedliche Typen von Versicherern nebeneinander existieren.

Die aktuelle Krise, so BaFin-Chef Hufeld, wird für die Lebensversicherer zu einer weiteren Herausforderung, insbesondere mit Blick auf die Solvenz und Liquidität. Wie sehen Sie die Entwicklung von Athora im deutschen und europäischen Markt? Was erwarten Sie für dieses Jahr?

Dr. Christian Thimann: 2019 war für Athora Deutschland ein erfolgreiches Jahr. Die strategische Neuausrichtung des Asset Managements hat sich ausgezahlt. Für unsere Kunden haben wir die Überschussbeteiligung für 2020 auf 2,75 Prozent erhöht. Das ist im aktuellen Negativzinsumfeld nicht selbstverständlich. Zudem haben wir durch eine umfassende Rückversicherung im eigenen Konzern unser Marktrisiko deutlich reduziert. So konnten wir die Solvenzquote im letzten Jahr deutlich verbessern. Im Übrigen gegen den Markttrend. Auch auf europäischer Ebene war es ein gutes Jahr für die Athora-Gruppe. Mit der Übernahme von Generali Belgien und Vivat in den Niederlanden ist die Gruppe erheblich gewachsen und betreut nun über drei Millionen Kunden und 70 Milliarden Euro an verwaltetem Vermögen. Diesen positiven Kurs wollen wir 2020 fortsetzen. Athora konnte 1,8 Milliarden Euro zusätzliches Kapital aufnehmen, nachdem die Gruppe bereits mit 2,2 Milliarden Euro an Kapitalzusagen von langfristigen Investoren ausgestattet war. Damit kann Athora weitere Zukäufe und Rückversicherungstransaktionen in Europa finanzieren.


Die Fragen stellte Klaus Morgenstern vom Deutschen Institut für Altersvorsorge (DIA).