Beirut – wie konnte das passieren?
Wie konnte es dazu kommen, dass fast 3.000 Tonnen eines hochexplosiven chemikalischen Gemischs in einer ungesicherten Lager-Halle mitten im Beiruter Hafen lagerten? Eine Hintergrund-Recherche von Sascha Rauschenberger.
Die Druckwelle ist durch, der Rauch hat sich gelegt und Beirut ist als Stadt (mal wieder) Geschichte. Bis zu 300.000 Einwohner der Hauptstadt des Libanon sind obdachlos und die Zahl der Toten und Verletzten steigt stetig an. Wie es aussieht, trafen die Druckwelle in der Luft und die Schockwelle durch die Erde auf das, was man wohl als südländischen Qualitätszement bezeichnen könnte, und brachte ihn zum bröseln. Von den Fundamenten die Mauern hoch bis zum Dach der Wohntürme ist nun alles recht instabil. Und damit unbewohnbar. Sobald der Sommer endet, der Regen fällt und dann in die offenen Häuser-Spalten zieht, verschlimmert sich die Situation. Zerstört dann auch den Stahl im Beton. Zusammenstürzende Gebäude werden in Beirut zum Alltag gehören, die Katastrophe also weiter fortsetzen, und weitere Tote und Verletzte fordern.
Grund genug mal ein paar unbequeme Fragen zu stellen.
Der kleine Küstenfrachter „Rhosus“ unter der Flagge Moldawiens und mit dem russischen Eigner Igor Grechushkin, der eine Reedereibriefkastenfirma auf Zypern betreibt, kaufte im Jahre 2013 in Georgien 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat und wollte es nach Mosambique verschiffen.
Frage 1: Konnte das Schiff überhaupt 2.750 Tonnen laden?
Konnte es. Wenn man genug Treibstoff weglässt, hätte man die Tragfähigkeit des Schiffes mit 1.600 m³ Ladung (ohne Umverpackung) durchaus füllen können.
Frage 2: Konnte der Küstenfrachter von Georgien in das südliche Afrika fahren?
Nein, konnte es nicht. Es musste wohl alle paar hundert Kilometer einen Tankstopp einlegen.
Frage 3: Wussten die in Afrika denn, dass diese Ladung kommt?
Nein, wahrscheinlich wussten sie es nicht. Sie hätten es aber wissen müssen, da diese Art von gefährlicher Ladung angemeldet werden muss. Nur war diese Ladung im Zielhafen nicht angemeldet.
So kam dann der Frachter mit seiner brisanten Ladung zur Küste des Libanon, hatte eine Havarie, und steuerte den nächsten Hafen an. Das war Beirut.
Und ab da ging der Ärger los, denn der Reeder, Igor Grechushkin, war ab sofort nicht mehr zu erreichen. Und es stellte sich auch schnell heraus, dass die Besatzung keine Verpflegung hatte, was die Behörden alarmierte, da die Reise ja bis Mosambique hätte dauern sollen. Geld war auch nicht da. Weder für Liegegebühren im Hafen, noch für Proviant und schon gar nicht für die Reparatur des havarierten Schiffes. So kam der Dampfer an die Kette, was die explosive Ladung nun zu einem Problem der Behörden des Libanon machte. Diese stellten das Lagerhaus 12 zur Verfügung und verbrachten die nun beschlagnahmte Ladung dort hin. Warum das Lagerhaus 12? Vielleicht deshalb, weil es niemandem gehört. Zumindest findet sich momentan kein Eigentümer. Das mag ein Zufall sein. Oder Pech. Oder eine Folge dessen, was in Beirut als Katasteramt so durchzugehen vermag. Unter dem Strich wollte wohl dann auch keiner Miete haben, denn schlussendlich lagerte das Ammoniumnitrat bis … bis vor ein paar Tagen dort. In dem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass sich der Eigentümer des Lagers immer noch nicht gemeldet hat.
Frage 4: Ist das im Libanon normal?
Ja, ist es. Besonders dann, wenn es sich lohnt. Für alle… Doch warum sollte sich so etwas lohnen? Ganz einfach. Die Antwort findet man auf der Zeitachse. Im Jahre 2013 tobte der Bürgerkrieg in Syrien im dritten Jahr. Motiviert von der US-Regierung Obama rebellierten Teile des Volkes gegen den Diktator Assad. Gute wie Böse fanden schnell Helfer und Syrien wurde zum Stellvertreter-Schlachtfeld. Städte verschwanden unter Trümmerbergen und uralte Kulturdenkmäler lösten sich in Staub auf. Das passiere mit Aleppo und Palmyra. Und so bombten Syrer, Kurden, und ISIS-Schergen – init wechselnden Allianzen und immer mit Unterstützung der US-Amerikaner und Russen – alles in Grund und Boden. Viele Städte in Syrien erinnern an Bilder aus Hamburg, Köln, Tokio oder Hanoi nach dem Krieg.
Frage 5: Was hat das denn mit dem Schiff und seiner Ladung zu tun?
Bei der Explosion in Beirut wurden wahrscheinlich nicht 2.750 Tonnen zur Explosion gebracht. Kratergröße und -schäden lassen vielmehr auf eine Masse von 800-900 Tonnen umgesetzten Ammoniumnitrats schließen, das womöglich mit anderen Substanzen angereichert worden ist. Verfeinert wurde. Und das im engeren Sinn von leistungsgesteigert. Die im Vorfeld der Hauptexplosionen stattfindenden kleineren Explosionen und die Farbe des Rauches lassen darauf schließen. Auch die Funkenbildung bei den kleineren Explosionen. Wenn also nur 800-900 Tonnen explodiert sind, wo ist dann der restliche Sprengstoff geblieben?
Frage 6: Lohnt sich der illegale Handel mit Ammoniumnitrat?
Der Preis für Ammoniumnitrat ist auf Kilobasis 45 Euro. Eine Tonne reines Ammoniumnitrat kostet mit Mengenrabatt je nach Angebotslage um die 250 Euro (25 Cent/kg). Allein hier ist die Gewinnspanne schon enorm. Nur wurde der Stoff ja nicht kiloweise verkauft, sondern tonnenweise. Aus einem lokalen Vorrat in der Lagerhalle 12, der verkehrsgünstig zu erreichen war und alle späteren Embargos umging. Es war der Discounter mit Null-Risikoaufschlägen für alle, die davon wussten und so nutzen konnten.
Frage 7: Cui bono? Wem nützt es?
Diese Frage ist im Libanon nicht leicht zu klären. Es gibt kaum ein korrupteres Land als eben den Libanon. Die Regierung mag gewählt sein, aber unter dem Strich arbeitet sie mit der örtlichen Mafia zusammen, muss Claninteressen berücksichtigen und unterliegt der Einmischung diverser Staaten und NGOs. Dass in diesem Zusammenhang das beschlagnahmte Ammoniumnitrat nicht wirklich sicher gelagert, wurde darf angenommen werden. Weder handhabungssicher noch diebstahlsicher. Kurzum: es kam zufällig ein Schiff mit einer Ladung rechtzeitig an, um kluge und ortsansässige Geschäftsmänner zu ansehnlichem Vermögen verhelfen zu können. Und der der russische Reeder ist unauffindbar, sein Sohn kann aber seit 2014 in Schottland IT studieren…
Frage 8: Wer wusste davon? Wer wusste, dass da hunderte Tonnen Sprengstoff in den Syrienkonflikt verfrachtet wurden? Dass mit dieser Ladung Menschen ermordet wurden? Die damit MILLIONEN zur Flucht getrieben wurden?
Alle, die es wissen wollten! Beirut liegt 130 Kilometer nördlich der israelischen Grenze. Dort tobt seit Jahren ein von der vom Iran geförderten Terror-Organisation Hisbollah befeuerter Abnuntzungskrieg. Israel hat ein vitales Interesse zu wissen, wo Raketen und Sprengstoff herkommen. Wie sich die Terroristen das Material beschaffen. Und wo und von wem. Das geht sogar soweit, dass der israelische Geheimdienst Mossad unsere Behörden über Sprengstofflager von Hisbollah-Terroristen in Deutschland informiert hat. Und da sollen sie von 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat nichts gewußt haben? Nach offiziellem Ausbruch des Syrienkonfliktes war der Hafen von Beirut der wohl am besten überwachte Hafen der Welt. Für Überwachungsflüge musste mit Sicherheit ein Schichtplan erstellt werden, damit Aufklärer und Drohnen nicht über Beirut kollidierten. Von fast allen Nationen, die nicht ohnehin schon vor der Küste mit Kriegsschiffen kreuzten.
Es ist bekannt, dass 2018 ISIS große Mengen Ammoniumnitrat kaufte. Bezahlt wurde mit Geld aus dem Ölschmuggel aus dem Nordirak in die Türkei. Trotz Boykott. Wer es nicht glaubt möge mal die Medienberichte aus der Türkei studieren, nach denen die Söhne von Präsident Erdogan die ISIS-Öl-Importeuere waren.
Anzunehmen, dass der BND nichts wusste, ist illusorisch. Der von vielen belächelte BND hatte zur Zeit des kalten Krieges eine bessere Karte der Abwasserkanäle Moskaus als deren Stadtverwaltung. Und ausgerechnet diese Region, in der der BND seit seinem Bestehen bestens vernetzt ist und aus der Flüchtlinge in großer Zahl und aller Couleur strömten, hatte er nicht im Auge? Wusste nichts von dem Ammoniumnitrat? Das wusste doch jeder in Beirut, der es wissen wollte…
Frage 9: Und warum wurde das nicht abgestellt?
Der Libanon ist französisches Interessengebiet. Natürlich wussten auch die Franzosen von dem Frachter, seiner Ladung und dem laufenden Geschäft mit dem Ammoniumnitrat. Wie auch die Libanesen wussten, dass es wirklich alle anderen Nationen wussten. Von den Kriegsgewinnlern. Von der Verwendung und dem Elend, das damit ausgelöst wurde. Und von den nun auch sichtbaren Folgen für Beirut selbst. Beirut mag korrupt sein, aber die Menschen dort sind nicht blöd. Der Autor mag gar nicht darüber anfangen zu spekulieren, warum man dieses Sprengstofflager für radikale und fanatisierte Massenmörder nicht mit einer internationalen Aktion ausgehoben hat. Es ist ja nicht so, dass die libanesische Regierung mit einem Atomwaffeneinsatz hätte drohen können… Warum hat Israel zugesehen, das mit Sicherheit berechtigte und historisch begründete Sorge um seine Sicherheit hatte? So etwas passiert nur, wenn es Absprachen gibt. Verlässliche Absprachen, dass der Sprengstoff ausschließlich gen Syrien geht, kedenfalls nicht nach Israel.
Warum die USA und Russland zugesehen haben ist relativ klar: es betraf sie nicht. Sie flogen nur über das Kriegsgebiet hinweg und hatten keine eigenen Truppen im Gefahrenbereich. Und bedienten sich wohl auch via Mittelsmänner für ihre Fraktion aus dem Lager. Das ist ihnen noch nicht mal vorzuwerfen.
Assad, Kurden und ISIS sowie andere Fraktionen haben sich mit Sicherheit bedient. Die Fassbomben von Assad hatten wohl auch angereichertes Ammoniumnitrat als Inhalt. Und der ISIS-Sprengstoff der das Weltkulturerbe von Römern, Griechen, Persern, Sumerer, Assyrern und anderen in der Region wegsprengte, stammt wohl auch zu Teilen aus Beirut.
Und Deutschland? Hier trieb bis in den April 2020 hinein die Hisballah ihr Unwesen. Die Bundesregierung brauchte sieben Jahre seit 2013, als die EU die Hisbollah als Terrororganisation einstufte, bis sie die Hisbollah verbot. Die Hisbollah soll hunderte Kilo Ammoniumnitrat in Süddeutschland gelagert haben. Die Reaktion von Bundesaußenminister Heiko Maas? Unbekannt, unmerklich…
Wie sagte Sherlock Holmes: Wenn alles logisch ausgeschlossen werden kann, dann ist das, was am Ende übrig bleibt, auch wenn es noch so unwahrscheinlich ist, die Wahrheit!
Bleiben zum Schluss eine Hoffnung und eine Bitte.
Wir sollten hoffen, dass nicht Teile des Sprengstoffs, der über die Libanesen-Clans nach Europa gekommen ist, zum Einsatz kommt. Zu oft wurde schon unser Staat eben mit dem angeblichen Vorhandensein von AK47 und Sprengstoff bedroht, um es nicht mal wirklich ernst zu hinterfragen. Gerade jetzt. Und dann ist da die Bitte, den Libanesen zu helfen. Beirut ist fast unbewohnbar geworden und der Winter naht. Und der wird auch im Libanon sehr kalt. Gerade in den Bergen, wo viele Menschen nun bei Verwandten Unterschlupf suchen müssen. Hier müssen wir nicht auch noch wegsehen. Denn wenn die das nicht schaffen, könnten auch sie flüchten müssen. Im Libanon können wir besser – und auch billiger – helfen, als hier.