Krieg und Demografie: Die Ukraine in der Krise
Die UN schätzt, dass 4 Millionen Ukrainer auf der Flucht vor dem Krieg sind. Das verschärft die demografischen Probleme der Ukraine noch einmal dramatisch.
Seit dem 24. Februar 2022 tobt in der Ukraine Krieg, an diesem Tag hat Russland sein Nachbarland überfallen. Etwa 1 Million Ukrainer ist schon nach Polen und Rumänien geflohen. Die UN schätzt, dass 4 Millionen Bürger der Ukrainer vor dem Krieg flüchten.
Neben den zahlreichen Problemen und Herausforderungen, mit denen die Ukraine auch in Friedenszeiten konfrontiert war, wird häufig eine problematische Entwicklung übersehen: die schleichende demografische Krise des Landes.
Selbst die Ukrainische Nationalbank schlug schon Alarm. Laut offiziellen Angaben haben allein im Zeitraum von 2008–2017 rund 3,7 Millionen Ukrainer ihr Land verlassen. Das birgt der Bank zufolge enorme Risiken für den heimischen Arbeitsmarkt und die öffentlichen Finanzen. Angesichts des langanhaltenden Krieges in der Ostukraine, der Krim-Annexion und der allgemein schwierigen wirtschaftlichen Lage weiß niemand wirklich, wie viele Menschen derzeit eigentlich im Land leben. Allerdings ist davon auszugehen, dass vor allem junge, mobile und bessergestellte Ukrainer ihr Land verlassen.
Die demografische Entwicklung seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991
Der Zusammenbruch der Sowjetunion führte zu einem nachhaltigen Bruch in der demografischen Entwicklung. Einerseits nutzen viele Bürger der Ukraine den Fall des Eisernen Vorhangs, um wegen besserer Zukunfts- und Berufsperspektiven in den Westen zu gehen – dieser brain drain hatte Auswirkungen insbesondere auf den Bildungs- und Gesundheitsbereich, da viele Akademiker das Land verließen.
Gleichzeitig führte der wirtschaftliche Niedergang des Landes, der für Millionen von Menschen in kürzester Zeit ein Leben in Armut, Arbeitslosigkeit und Unsicherheit bedeutete, zu einem drastischen Geburtenrückgang: Lag die Geburtenrate der ukrainischen Sowjet-Republik im Zeitraum von 1980–1985 laut UN bei 2,0 Geburten pro Frau, halbierte er sich in der Zeit von 1995–2000 fast auf 1,2 Geburten und liegt derzeit mit rund 1,5 Geburten pro Frau unter dem EU-Durchschnitt von 1,6. Dabei kamen 2016 laut Ukrainischer Statistikbehörde auf eine Geburt durchschnittlich 1,5 Todesfälle, was einen Teil des drastischen Bevölkerungsrückgangs erklärt.
Lebten 1991 laut Weltbank noch 52 Millionen Menschen in der Ukraine, waren es 2014 nur noch 45,3 Millionen – ein Rückgang von knapp sieben Millionen Menschen. Aktuell wird die Gesamtbevölkerung auf 42,3 Millionen Menschen geschätzt. Einige Demografie-Experten gehen davon aus, dass selbst diese Zahl noch zu hoch gegriffen ist.
Vor dem Krieg in der Ukraine ging die Internationale Organisation für Migration davon aus, dass 2050 nur noch 33 Millionen Menschen in der Ukraine leben werden. Das würde im Vergleich zu 1991 einen Bevölkerungsschwund von 19 Millionen Menschen bzw. 36% bedeuten – ein demografischer Rückgang in bisher kaum gekanntem Ausmaß. Diese Entwicklung wird durch die Fluchtbewegung jetzt noch drastisch verstärkt.
Fehlende Perspektiven als Ursache für Emigration
Neben der niedrigen Geburtenrate ist die Emigration das zweite große Problem der demografischen Entwicklung in der Ukraine. Vor allem sind es die jungen und gut ausgebildeten Menschen, die das Land verlassen. Sie hinterlassen eine eklatante Lücke in Bildung, Wirtschaft und Behörden. Schlechte Perspektiven auf dem heimischen Arbeitsmarkt, die Hoffnung auf ein besseres Leben in Westeuropa sowie der Krieg lassen die Menschen ihre Koffer packen. Umfragen zufolge gaben vor Ausbruch des Krieges rund 30% der Abiturienten an, ins Ausland gehen zu wollen, um dort zu studieren und zu arbeiten.
Die demografischen und wirtschaftlichen Folgen für die Ukraine
Die Folgen der Emigration sind bereits jetzt in der Ukraine deutlich spürbar. Wenn ein beträchtlicher Teil der arbeitsfähigen Bevölkerung nicht mehr für die ukrainische Wirtschaft zur Verfügung steht, führt das zu einem Mangel an Humankapital und hemmt die wirtschaftliche Entwicklung im eigenen Land. So hat sich z. B. im Westen des Landes dank der Nähe zur EU und den günstigen Lohnkosten ein Cluster von Automobilzulieferern entwickelt, dem es inzwischen jedoch an Fachkräften mangelt.
Die ökonomisch weniger prosperierenden ländlichen Räume stehen vor der großen Herausforderung, ihre Regionen zu entwickeln und eine Abwärtsspirale aus wirtschaftlicher Regression und Wegzug junger Menschen zu verhindern. Besonders gilt das für die östlichen Industriegebiete des Donbass: Diesen steht nicht nur eine immense Restrukturierung der von Schwerindustrie geprägten Region bevor. Sie müssen auch mit dem seit acht Jahren andauernden Krieg leben, der Ressourcen bindet, die Infrastruktur beschädigt, Investoren abschreckt und die Menschen zum Wegziehen zwingt.
Selbst die Rücküberweisungen der im Ausland tätigen Ukrainer – 2017 wurden mehr als 9 Mrd. USD von Ukrainern in ihre Heimat überwiesen – sind nicht unproblematisch: Sie sind zwar wichtig für die ukrainischen Heimat-Haushalte, gehen jedoch am Fiskus vorbei und generieren keine Steuereinnahmen für die Staatskassen, die so dringend für Renten, Bildung oder für die öffentliche Verwaltung benötigt werden.