23. August – Tag der Schande
Der Kampf gegen den „Faschismus“ soll den Linken moralische Überlegenheit garantieren. Da hilft ein Blick in die Geschichtsbücher. Von Uwe-Matthias Müller.
Augenzeugen berichten, dass die listigen Augen des kleinen Mannes mit dem schütteren Haar zufrieden blitzten, als er – die ewig glimmende Zigarette in der Hand – dem übermüdeten Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop mit seinem Lieblings-Getränk – grusinischem Weinbrand – zuprostete. Eben hatten von Ribbentrop und der sowjetrussische Aussenminister Molotow den später so genannten Hitler-Stalin-Pakt unterzeichnet. Und zufrieden konnte der sowjetische Diktator in der Tat sein: ohne jede Anstrengung und fast zum diplomatischen Nulltarif hatte Stalin binnen weniger Stunden seine europäischen Expansions-Pläne der Stufe 1 durchgesetzt. Das geheime Zusatzprotokoll zum Hitler-Stalin-Pakt sicherte ihm die baltischen Staaten, Bessarabien und das östliche Drittel des souveränen Staates Polen. Dafür musste die Wehrmacht nur noch Polen angreifen und entscheidend schlagen. Den Befehl dazu gab der deutsche Führer und Oberbefehlshaber der Wehrmacht, Adolf Hitler, und so begann am 1. September 1939 der Krieg gegen Polen; am 17.9.1939 marschierte die Rote Armee in Ostpolen ein und besetzte das ihr im geheimen Zusatzprotokoll versprochene Gebiet und gab es nie wieder her.
Die Deutschland zugeneigten baltischen Staaten wurden zwar im Sommer 1941 von der Wehrmacht „befreit“, blieben aber nach der Zurückdrängung der deutschen Truppen durch die Rote Armee bis 1990 Teil der Sowjet-Union.
Es liesse sich noch viel erzählen über das schmähliche Agieren der Sowjet-Führung. So stoppten die sowjetischen Armeen vor Warschau, als die polnische Heimat-Armee am 1. August 1944 einen Aufstand gegen die deutsche Besatzung begannen. All die 63 Tage des heldenhaften Auftstandes war die Hilfe der Sowjets für die Polen marginal. Am Ende waren die nationalen Kräfte Polens entscheidend geschwächt und der Weg frei für polnische Kommunisten, die dann auch prompt nach dem Ende des Krieges das deutsche durch ein stalinistisches Terror-Regime ersetzten.
Pikant ist, dass der Sowjet-Union das geheime Zusatzprotokoll offensichtlich so peinlich war, dass sie dessen Existenz jahrzehntelang leugnete. Verteidiger der Angeklagten im Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozess zitierten das geheime Zusatzprotokoll zwar, dies ging aber in der damaligen Stimmungslage weitgehend unter.
Die Existenz des Zusatzprotokolls zum deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt wurde vom Kreml weiter lange geleugnet. Denn es war klar, welcher Sprengsatz für den Zusammenhalt der Sowjetunion mit dessen Existenz verbunden war. Auch die Bundesregierung vermied aus Rücksicht auf die Sowjetunion trotz zahlreicher Initiativen aus dem Bundestag jede klare Stellungnahme zum Geheimen Zusatzprotokoll. Die baltischen Politiker und die polnische Solidarność drängten in den 1980er-Jahren den Deutschen Bundestag mit Verweis auf die Prager Verträge zur Nichtigkeit des Münchner Abkommens vergebens zu einer frühen und klaren Annullierung.
Mit der Perestrojka änderte sich die Situation und auf Drängen der baltischen Sowjetrepubliken wurde im Juni 1989 eine Kommission des Volksdeputiertenkongresses zur politischen und juristischen Bewertung des Paktes gebildet. Am 23. August 1989, dem 50. Jahrestag des Paktes bildeten zwei Millionen Balten zum Protest gegen das Zusatzprotokoll eine Menschenkette von 600 Kilometer Länge („Baltischer Weg“).
Neben den vielen, millionenfachen Morden an Angehörigen des eigenen Volkes, ist der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt sicher ein moralischer Sargnagel des Kommunismus russischer Prägung. Er ist aber kein singuläres Ereignis. Erinnert sei hier nur an den Versuch Molotows im November 1940, von Hitler weitere europäische Territorien zu erhalten. Oder an die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ am 21. August 1969 oder an den Einmarsch der Sowjet-Truppen in Afghanistan, wenige Tage nach Weihnachten 1979.
Der deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag mit geheimem Zusatzprotokoll
Die deutsche Reichsregierung und die Regierung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, geleitet von dem Wunsche, die Sache des Friedens zwischen Deutschland und der UdSSR zu festigen, und ausgehend von den grundlegenden Bestimmungen des Neutralitätsvertrages, der im April 1926 zwischen Deutschland und der UdSSR geschlossen wurde, sind zu nachstehender Vereinbarung gelangt:
Artikel 1
Die beiden vertragschließenden Teile verpflichten sich, sich jeden Gewaltakts, jeder aggressiven Handlung und jeden Angriffs gegeneinander, und zwar sowohl einzeln als auch gemeinsam mit anderen Mächten, zu enthalten.
Artikel 2
Falls einer der vertragschließenden Teile Gegenstand kriegerischer Handlungen seitens einer dritten Macht werden sollte, wird der andere vertragschließende Teil in keiner Form diese dritte Macht unterstützen.
Artikel 3
Die Regierungen der beiden vertragschließenden Teile werden künftig fortlaufend zwecks Konsultation in Fühlung miteinander bleiben, um sich gegenseitig über Fragen zu informieren, die ihre gemeinsamen Interessen berühren.
Artikel 4
Keiner der beiden vertragschließenden Teile wird sich an irgend einer Mächtegruppierung beteiligen, die sich mittelbar oder unmittelbar gegen den anderen Teil richtet.
Artikel 5
Falls Streitigkeiten oder Konflikte zwischen den vertragschließenden Teilen über Fragen dieser oder jener Art entstehen sollten, werde beide Teile diese Streitigkeiten oder Konflikte ausschließlich auf dem Wege freundschaftlichen Meinungsaustausches oder nötigenfalls durch Einsetzen von Schlichtungskommissionen bereinigen.
Artikel 6
Der gegenwärtige Vertrag wird auf die Dauer von zehn Jahren abgeschlossen mit der Maßgabe, daß, soweit nicht einer der vertragschließenden Teile ihn ein Jahr vor Ablauf dieser Frist kündigt, die Dauer der Wirksamkeit dieses Vertrages automatisch als für weitere fünf Jahre verlängert gilt.
Artikel 7
Der gegenwärtige Vertrag soll innerhalb möglichst kurzer Frist ratifiziert werden. Die Ratifikationsurkunden sollen in Berlin ausgetauscht werden. Der Vertrag tritt sofort mit seiner Unterzeichnung in Kraft.
Ausgefertigt in doppelter Urschrift, in deutscher und russischer Sprache.
Moskau, am 23. August 1939
Für die deutsche Reichsregierung gez. von Ribbentrop
in Vollmacht der Regierung der UdSSR gez. W. Molotow
Geheimes Zusatzprotokoll
Aus Anlaß der Unterzeichnung des Nichtangriffspaktes zwischen dem Deutschen Reich und der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken haben die unterzeichneten Bevollmächtigten der beiden Teile in streng vertraulicher Aussprache die Frage der Abgrenzung der beiderseitigen Interessensphären in Osteuropa erörtert. Die Aussprache hat zu folgendem Ergebnis geführt:
1. Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung in den zu den baltischen Staaten (Finnland, Estland, Lettland und Litauen) gehörenden Gebieten bildet die nördliche Grenze Litauens zugleich die Grenze der Interessensphäre Deutschlands und der UdSSR. Hierbei wird das Interesse Litauens am Wilnaer Gebiet beiderseits anerkannt.
2. Für den Fall einer territorial-politischen Umgestaltung der zum polnischen Staat gehörenden Gebiete werden die Interessensphären Deutschlands und der UdSSR ungefähr durch die Linie der Flüsse Pissa, Narew, Weichsel und San abgegrenzt. Die Frage, ob die beiderseitigen Interessen die Erhaltung eines unabhängigen polnischen Staates erwünscht ei-scheinen lassen und wie dieser Staat abzugrenzen wäre, kann endgültig erst im Laufe der weiteren politischen Entwicklung geklärt werden. In jedem Falle werden beide Regierungen diese Frage im Wege einer freundschaftlichen Verständigung lösen.
3. Hinsichtlich des Südostens Europas wird von sowjetischer Seite das Interesse an Bessarabien betont. Von deutscher Seite wird das völlige politische Desinteressement an diesen Gebieten erklärt.
4. Dieses Protokoll wird von beiden Seiten streng geheim behandelt werden.
Moskau, den 23. August 1939
gez. von Ribbentrop
gez. W. Molotow
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