Der Kommentar am Sonntag in DNEWS24.

Gedankenmacher: Berlin – die vertane Chance

Die Hauptstadt hat in 150 Jahren mehrere Metamorphosen durchgemacht – vom beschaulichen Residenz-Städtchen zur Industrie-Metropole und Weltstadt, Wiederaufbau der schwer beschädigten geteilten Stadt nach dem 2. Weltkrieg, Besiedelung der Mauerbrache. Das Resultat ist ideen- und seelenlos.

James Hobrecht entwarf Mitte des 19. Jahrhunderts einen Plan für Berlin, mit dem das voraussichtliche Wachstum der Stadt nachhaltig gestaltet werden sollte. Der Hobrecht-Plan sah Ring- und Ausfallstraßen vor, die sich durch außergewöhnliche Großzügigkeit auszeichneten. Der zweite Kernpunkt seiner stadtgestaltenden Planung sah die Begrenzung der Häuserhöhe auf 22 Meter vor („Berliner Traufhöhe“). Was in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts technisch bedingt angemessen gewesen sein mag, wirkt heute überholt. Will heute ein Investor in Berlin ein von der Berliner Traufhöhe abweichendes Hochhaus bauen, gibt es elendig lange Diskussionen und bürokratische Hürden – bis dem Investor Lust und Kapital ausgehen. So ist zum Beispiel die anhaltende Ödnis des Alexander-Platzes zu erklären, wo nach den Plänen von Helga Timmermann und Hans Kollhoff längst ein Bündel von innovativen Hochhäusern glänzen sollte, eine schier unendliche kahle Plattenwüste aber immer noch jeden lustvollen Aufenthalt vergällt.

Doch da, wo gebaut wurde seit 1990 – mit oder ohne Einhaltung der Traufhöhe -, bietet sich dem Auge des Betrachters der blanke Schrecken. Überall eintönig symmetrisch angeordnete schmale und hohe Fenster, die wie Schießscharten anmuten, aus denen gleich der architektonisch-gelangweilte Volkssturm ballert. Uniformität und Stumpfsinn am Pariser und Leipziger Platz statt Vielfalt und optische Aufregung.

Die moderne Architektur Berlins ist so einfallslos und uninspiriert, dass sie zumindest kein Touristenmagnet sein kann. Wer nach Valencia, Rotterdam oder Mailand schaut, kann eigentlich als Berliner nur vor Scham im märkischen Sandboden versinken. Dort wo sich noch vor wenigen Jahren ein selbstverwaltetes Kunst-, Aktions-, Veranstaltungs- und Kommunikationszentrum befand, gähnt heute eine betonierte Tristesse, die selbst in Berlin ihresgleichen sucht.

Vergleicht man die Lebendigkeit des Vierecks vom Reichstag zum Askanischen Platz zum Mehring-Platz bis zum Alexander-Platz wird deutlich, welche pulsierende Urbanisierung die Stadt nach 1945 verloren hat. Volle U-Bahnen und Busse sind eben noch kein Zeichen für ein lebenswertes Miteinander. Das Regierungs-Viertel wirkt nicht protzig, nur kalt und ohne Phantasie (eine erlaubte Analogie zum Zustand der Ampelregierung?).

Wie wäre es, wenn künftig jedes Bauvorhaben nicht nur auf Ökonomie und Ökologie, sondern auch auf Originalität geprüft würde? Wenigstens so könnten noch ein paar Glanzlichter im steingewordenden Berliner Einerlei gesetzt werden.


Bild: Miikka a, Lysander Yuen, Shobhit Sharma, Simon Vollformat unsplash

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Der Autor

Uwe-Matthias Müller ist Gründer und Vorstand des Bundesverband Initiative 50Plus, des Bundesverband Initiative 50Plus Austria und Sprecher des European Center of Competence for Demography.

Bis 1996 hat er mit seiner Frau und den beiden Töchtern in (West-)Berlin gelebt. Nach zwei Jahren im Ausland lebt er heute in Bayern.

Uwe-Matthias Müller kommt viel und gern nach Berlin. „Als Berliner auf Zeit geniesst man nur die Vorteile der Hauptstadt und kann die vielen Unzulänglichkeiten, unter denen die Bewohner täglich leiden, einfach ignorieren.“

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