Deutschland ist ein Auswanderungs-Land für Fachkräfte.
Qualifizierte Fachkräfte verlassen Deutschland, gleichzeitig lockt Deutschland nur wenig ausgebildete Zuwanderer. Eine Analyse von Sascha Rauschenberger.
Gerne reden unsere Parlamente darüber, wie wir Einwanderer ins Land holen – locken – können. Dringend gebrauchte Fachkräfte, Akademiker und Menschen mit dem Charakterzug, Neues anfangen zu wollen. Bei uns. Doch in der Realität verlassen uns gemäß des neuen OECD-Berichts 180.000 Menschen pro Jahr, die gerade diese Qualifikationen und Charakterzüge haben. Schon Deutsch sprechen, integriert sind und oft hochqualifizierte Jobs hatten, die nach dem Freiwerden in aller Regel mit langen Nachbesetzungszeiten und kostenintensiven Einarbeitungszeiten für die Nachfolger einhergingen. Oder es schlossen Geschäfte in Gegenden, wo vielleicht sowieso schon viel schließen musste. Und keinen stört das.
Die alternde Bevölkerung in Deutschland und eine verlängerte Lebenszeit sollten auch zu einer längeren Lebensarbeitszeit führen. Ob dies angesichts eines Klimawandels in unserer Gesellschaft und einer zunehmenden sozialen Kälte attraktiv ist, bezweifeln immer mehr Bürger.
„Warum soll ich mir den Scheiss weiter antun?“
Diese Frage stand bei vielen dieser Menschen am Anfang der Überlegung, ob man auswandert, oder nicht. Eigentlich steht diese Frage bei vielen auf der Tagesordnung, aber nur wenige reagieren so, wie die vielen zehntausende pro Jahr, die dann tatsächlich gehen. Denn sie können es. Andere wollen vielleicht vielleicht, können aber nicht. Dann gibt es die, die noch keine Notwendigkeit sehen zu gehen, aber könnten. Und die, die… Hier könnte man weitere Beispiele anführen, die aber nur eines zeigen: die Dunkelziffer ist enorm!
Doch wer geht in aller Regel? Das sind die, die gut ausgebildet sind. Handwerksmeister, Akademiker und Selbständige, die gewohnt sind, Verantwortung zu übernehmen und gewillt sind, etwas Neues anzufangen. Ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Pioniere. Gründer. Kurz: Macher! Und da wir diese Menschen gehen lassen, ohne dass man nachfasst, Anreize schafft zu bleiben oder das Thema überhaupt auf die Tagesordnung bringt, heißt dann wohl, dass man politischerseits denkt, dass man Auswanderern „keine Träne nachweint.“
Auf der anderen Seite will man Menschen hierherholen und integrieren, ohne dass eine ganzheitlich erkennbare Migrationspolitik oder eine geordnete Integrationspolitik erkennbar wäre, damit sie hier zu Machern, Gründern und gesellschaftlichen Stützen werden. Und dazu wollen wir gezielt Akademiker, Handwerksmeister und Pioniere ansprechen.
????
Wir reden davon, dass wir überaltern. Dass Arbeitskräfte knapp werden. Fachkräfte vielerorts Mangelware sind und lassen Jahr für Jahr die Bevölkerung einer Großstadt ziehen? Oder anders ausgedrückt: die besseren zehn Prozent einer Großstadt? Die zehn Prozent, die gemeinhin das an Steuern und Sozialabgaben einzahlen, auf die dann die anderen 90 Prozent angewiesen sind, damit das Sozialsystem des Generationen-Paktes so überhaupt existieren kann?
Wir lassen Jahr für Jahr unsere Leistungsträger, Pioniere, mutige Menschen mit Gründermentalität(!) gehen, anstatt sie dazu zu bewegen, hier Neues anzufangen. Etwas aufzubauen. Zu gestalten. Schlicht: etwas zu erreichen!
Doch was schreckt sie ab? Ist es die Tatsache, dass ein Gewerbe aufzubauen in Deutschland schwieriger ist als anderswo? Man mehr Lizenzen haben und Verordnungen befolgen muss, um in Berlin mit einem Bauchladen herumzulaufen als in den USA eine Pharmafabrik hinzustellen? Oder sind es andere Argumente?
Kann es sein, dass da Menschen mit den Füssen abstimmen, weil sie kein Vertrauen mehr haben, dass man das Bürokratie-Monster und die sozialen Probleme hier in Deutschland noch in den Griff bekommt? Nicht nur die Folgen des demographischen Wandels, sondern ÜBERHAUPT?
Und wenn wir davon ausgehen, dass das nicht Menschen sind, die mal aus Langeweile und Reiselust in die Ferne ziehen, dümmliche Vorstellungen haben (dann gerne auch in diversen TV-Sendeformaten brillieren; als nicht englisch sprechender Taxifahrer in Dallas / Texas, USA…) und mitunter auch nicht das Leben eines Beamten im Katasteramt einer Stadt im Nirgendwo fristen, dann wird es wohl auch wesentlichere Gründe geben. Doch wenn wir in uns hineinhorchen, sind das sehr wahrscheinlich alles Fragen, die wir uns auch stellen, wenn wir nur die Entwicklung der letzten zehn Jahre verfolgt haben.
Von Abbau der Schulden reden, aber selbst bei guter Konjunktur kein Geld sparen können. Anderen Geld hinterherwerfen, das nicht übrig ist, sondern selbst auf Pump beschafft wird. Warum sich totarbeiten, wenn am Ende alles der Staat kassiert? Warum ein Unternehmen hier aufmachen, wenn als erster, zweiter und dritter der Staat, die Gemeinde und sonst wer im öffentlichen Bereich kassiert, bevor ich, der das Risiko und die Arbeit hat, den ersten Cent bekommt? Was hab ich noch vom Leben, wenn ich bis 63, 67 und 70 arbeiten muss und dennoch nicht genügend Rente bleibt? Was wird aus dem Gesundheitssystem, wenn ich alt bin? Muss ich mich hier überwachen lassen? Unter Mithilfe unserer Behörden? Was macht der Staat, wenn ihm das Geld ausgeht? Wo eigentlich sollen all die Zuwanderer hin? Warum werden kritische Tatsachen bewusst totgeschwiegen und verfälscht dargestellt, wenn sie doch offensichtlich sind? Haben meine Kinder hier noch eine Chance?
Die letzte Frage mit NEIN zu beantworten, dürfte dann für viele der ausschlaggebende Grund gewesen sein, Deutschland und oft sogar Europa den Rücken zu kehren. Denn diese Menschen haben Verantwortung, gelernt sie aktiv wahrzunehmen, haben die Mittel und das Gefühl, dass sie nun tätig werden müssen, da zu viele sie betreffende und für wichtig empfundene Parameter unstimmig, ungeklärt oder widersprüchlich sind. Und das sagt dann über unsere Gesamtlage schon einiges aus.
Was bedeuten Auswanderer für die Wirtschaft?
Es heißt klipp und klar, dass mit zunehmender Unsicherheit, mit zunehmender Verschärfung der Gesamtsituation im Lande, immer mehr dringend benötigte Menschen einfach kündigen und gehen. Und das werden dann vermutlich auch wieder die besseren Mitarbeiter sein, die man halten möchte, die man braucht… Damit wird das Employer Branding, das schon jetzt zunehmend an Bedeutung gewinnt und weiter gewinnen wird, ein Element, das durch das Unternehmen wenig bis gar nicht verändert werden kann.
Doch anders, als der bisher noch recht desinteressiert auftretende Staat haben Unternehmen die Möglichkeit, selbst aktiv zu werden. Sie können proaktiv die Belegschaften fragen, wer sich mit dem Gedanken beschäftigt und nach Gründen fragen. Alternativen anbieten, falls der Wunsch schon recht konkret (akut) ist; beispielsweise Stellen / Dienstposten in Auslandsstandorten anbieten. Dann auch mit der Option doch erst mal auf Zeit, um zu sehen, ob der Entschluss auch richtig ist. Das hätte Vorteile für beide Seiten…
Warten ist keine Option
Wenn diese Tendenz so weitergeht, dann verlieren wir in zehn Jahren fast anderthalb Millionen gut und teuer ausgebildete Menschen, die wir hier brauchen. Zusätzlich zu denjenigen, die aus gesundheitlichen und/oder altersbedingten Gründen ausscheiden. Diese Menschen sind durch die Bank die Leistungsträger unserer Gesellschaft. Daher wirkt sich der Verlust mehrfach aus. Mitunter so, dass zusätzlich zu den Nachbesetzungskosten für die Unternehmen noch Kosten anfallen, die neben Weiterbildung auch Integrationspakete beinhalten, um Einwanderer für das Unternehmen überhaupt erst fit zu machen.
Auch eine Aufwands-Dimension, die gern unterschätzt wird, aber bei leeren Kassen im öffentlichen Bereich wohl auch zunehmend auf die Unternehmen abgewälzt werden wird. Das Argument hierfür wäre dann wohl das “Verursacher- / Bedarfsträgerprinzip” der Kostenträgerschaft.
Doch sicher ist, dass ohne ein zügiges Konzept des „Citizen Branding“ hin zu einem “National Employer Branding” – einer besseren Bürgerbindung an unseren Staat -nur wenige der von den deutschen Zuständen Frustrierten und vom Ausland umworbenen bleiben werden.
Insgesamt ist hier also eine Herausforderung, die der Lösung harrt. Und jeder Tag, der vergeht, ohne dass etwas passiert, treibt weitere Menschen aus dem Land, das exakt diese Menschen aus vielerlei Hinsicht dringend braucht. Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man meinen, Till Eulenspiegel hätte wieder zugeschlagen und der Schildbürgerstreich wäre nur eine Nummer größer ausgefallen.