30 Jahre Deutsche Einheit und demografische Vielfalt
Ist zusammengewachsen, was zusammengehört? Das hat das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in einer Studie zu 30 Jahren Deutsche Einheit untersucht.
Deutschland – wie es sich seit 1990 entwickelt hat, zeigt ein Blick auf Karten und Luftbilder von damals und heute. Mehr als 66 Millionen Menschen im Westen Deutschlands und mehr als 16 Millionen im Osten verändern sich und verändern ihr Land. Die Menschen wohnen, arbeiten und leben, ziehen um, bauen, erschließen und renaturieren. Die geografischen und demografischen Spuren dieser Aktivitäten zeigen das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) und das Bundesamt für Kartographie und Geodäsie (BKG) in thematischen Karten, Luftbildern und historischen Landkarten im Vergleich von 1990 und heute. Auf Basis neuer kartographischer Daten werden dabei erstmals detaillierte regionale und lokale Vergleiche für diesen Zeitraum möglich. Die Ergebnisse sind in einer Broschüre zusammengefasst und in einer interaktiven Webanwendung abrufbar.
„Wendeschock“: Abwanderung im Osten, neue Bevölkerungsdynamik im Westen
Nach der Wiedervereinigung erlebte der Osten zunächst einen gravierenden Einschnitt. Die Wirtschaft brach ein, zahlreiche Menschen verloren ihre Arbeit. Die gesellschaftlichen Verhältnisse im Osten änderten sich grundlegend. Aufbruchstimmung und Verunsicherung bestimmten die Gefühlslage. In der Folge verließen viele, vor allem junge und gut ausgebildete Menschen ihre Heimat gen Westen. Die Geburtenraten sanken für einige Jahre auf historische Tiefststände. Einige Regionen verloren erheblich an Bevölkerung. Davon profitierte der Westen demografisch und wirtschaftlich. Eine schon damals von Alterungsprozessen gezeichnete Bevölkerung erlebte eine „Verjüngung“. Viele junge Zugezogene aus Ostdeutschland belebten nicht nur lokale Arbeits- und Wohnungsmärkte, sie brachten auch eine neue Dynamik in die demografische Entwicklung in vielen Teilen Westdeutschlands. Zwischen 1990 und 2016 hat der Osten im Saldo mehr als 1,2 Millionen Personen durch Umzüge an den Westen verloren. Doch seit 2017 ist eine Trendwende
zu beobachten: Zum ersten Mal seit der Wiedervereinigung sind mehr Menschen aus Westdeutschland in die ostdeutschen Flächenländer gezogen als umgekehrt.
Ost- und Westdeutschland: Wechselseitige, nicht einseitige Annäherung
Der Osten hat sich in vielerlei Hinsicht dem Westen angenähert. Heute liegt die Wirtschaftskraft im Osten bei 70 Prozent des Westens (2018, ohne Berlin), bei der Infrastrukturausstattung hat der Osten die Lücke großenteils geschlossen, die Binnenwanderung ist weitgehend ausgeglichen. Auch bei den Geburtenraten und der Lebenserwartung sind sich Ost und West heute ähnlich. Aber es gab auch Entwicklungen in die andere Richtung. Der Westen hat sich dem Osten angenähert, etwa bei der Erwerbsbeteiligung von Frauen und beim Ausbau der Kinderbetreuung. Früher bestehende Unterschiede haben sich verringert.
Jedoch sind auch Entwicklungen zu beobachten, die auf die Entstehung oder Vergrößerungen von Unterschieden verweisen, zum Beispiel die Bevölkerungsstruktur nach Geschlecht. Insbesondere in den 1990er Jahren wanderten mehr Frauen als Männer aus Ostdeutschland ab. So gibt es in vielen ostdeutschen Regionen heute mehr Männer als Frauen im Alter von 15 bis 49 Jahren, ein neu entstandener „Männerüberhang“. Dieser wird aber wahrscheinlich auch in ein paar Jahrzehnten wieder der Vergangenheit angehören.
Vielfach wird als Ursache für damalige und heutige Unterschiede zwischen Ost und West auf die Zeit der Zweistaatlichkeit zwischen 1949 und 1990 verwiesen. Diese Erklärung ist im Hinblick auf eine Reihe von Phänomenen stimmig. Allerdings zeigt ein Blick in die Vergangenheit, dass zahlreiche Unterschiede auch schon vor 1945 bestanden. Beispiele hierfür sind historische Unterschiede bei den nichtehelichen Geburten, dem Anteil der Selbstständigen oder der Frauenerwerbsbeteiligung.
Der Direktor des BiB Prof. Dr. Norbert F. Schneider betont: „Regionale und demografische Disparitäten kennzeichnen Deutschland seit jeher. Sie entwickeln sich sehr dynamisch und sind nicht durch bloße Ost-West-Unterschiede zu erklären.“ Insgesamt zeigt sich, dass die ostdeutschen Länder und Regionen ihre eigenen Besonderheiten bewahrt und ihr eigenes Profil ausgebildet haben. Vielfalt statt Einheitlichkeit prägt das Bild.
30 Jahre Deutsche Einheit und Vielfalt: „Männerüberhang“ in manchen Ost-Regionen
Große Vielfalt innerhalb von „Ost“ und „West“
Die Entwicklungen verdeutlichen auch, dass es heute kaum noch Sinn macht, demografisch und wirtschaftlich „vom Osten“ und „vom Westen“ zu sprechen. Die Disparitäten innerhalb von Ost und West sind teilweise beträchtlich und es gibt viele boomende Regionen im Osten. Hierzu zählen der Großraum Berlin sowie die Städte Dresden, Leipzig und Jena. Gleichzeitig gibt es in Westdeutschland Gebiete mit Bevölkerungsrückgängen, etwa Strukturwandelregionen im Ruhrgebiet und im Saarland.
Disparitäten entfalten sich heute nicht primär entlang von Ost und West, auch nicht entlang von Zentrum und Peripherie, sondern entlang von prosperierenden und sich im Strukturwandel befindlichen Regionen.
Entwicklungen der Regionen: dynamisch und pulsierend
Längerfristig angelegte Betrachtungen zeigen, dass regionale Entwicklungen selten einem starren Muster folgen, sondern meist von einem Auf und Ab geprägt sind. Aus aktuellen Trends lässt sich nicht zwingend auf längerfristige Entwicklungen schließen. Regionen, die heute zu den „Verlierern“ zählen, können schon bald eine sehr positive Entwicklung nehmen – und umgekehrt. Im 19. Jahrhundert war zum Beispiel der Süden Deutschlands wirtschaftlich abgehängt – heute ist er wirtschaftlich führend. Daher geht es darum, die Möglichkeiten und Umstände, die solche Trendwenden in der Vergangenheit ausgelöst oder beschleunigt haben, besser zu kennen und sie in aktuelles politisches Handeln vor Ort zu überführen.
BiB-Forschungsdirektor Dr. Sebastian Klüsener betont: „Insgesamt zeigt der Blick in die Geschichte, dass viele Trendentwicklungen nicht von Dauer sind, sondern auch wieder Umkehrungen erfahren können. Dies gilt auch für regionale demografische Alterungsprozesse.“
Ostdeutsche Landschaften im Wandel
Durch die früheren DDR-Kartenwerke können Änderungen der ostdeutschen Landschaften gut dokumentiert werden. Diese Veränderungen – beispielsweise rund um ehemalige Tagebaue – werden in Karten deutlich sichtbar. So wurde nach dem Ende des Braunkohletagebaus in der Region rund um Bitterfeld die Landschaft markant umstrukturiert. Die ehemaligen Senken wurden geflutet und heute gibt es hier große Seen und Naherholungsgebiete. Auswertungen des Gebiets der ehemaligen DDR offenbaren hierzu zwei prägnante Sachverhalte: Der Rückgang der Abbauflächen um 48 Prozent (-361 km²) und die Zunahme der Wasserflächen um 19 Prozent (+276 km²).
Die nächsten 30 Jahre: Verringerung von Stadt-Land-Unterschieden möglich?
In Deutschland gibt es aufgrund der relativ zentralen Lage in Europa und der dezentralen Siedlungsstruktur mit vielen regionalen Zentren im Vergleich zu anderen Ländern kaum stark abgelegene Regionen. Somit haben viele Regionen in Deutschland gute Entwicklungspotenziale. In Ostdeutschland liefern urbane Wachstumszentren wie etwa Berlin, Dresden und Jena bereits jetzt wichtige Impulse. Aktuelle soziale und technologische Entwicklungen lassen vermuten, dass auch Regionen abseits großer Zentren, wie sie in Ostdeutschland vielfach existieren, zukünftig als Wohn- und Arbeitsorte an Bedeutung gewinnen. Zu diesen Entwicklungen zählt der durch die Corona-Epidemie beschleunigte Trend zum Home-Office, der Menschen bei der Wohnortwahl unabhängiger macht. Dieser Trend wird durch den Ausbau des Breitbandinternets unterstützt. Auch Fortschritte bei der autonomen Mobilität bieten Potenzial, Stadt-Land-Unterschiede beim Zugang zu Dienstleistungen wie ÖPNV und der Versorgung mit Gütern des täglichen
Bedarfs zu reduzieren.