Krieg in der Ukraine: Seit 5:45h wird halt nicht zurückgeschossen…

Russland hat die Ukraine angegriffen. Was kann der Westen tun? Ein Kommentar von Sascha Rauschenberger.

Das klingt schon fast zynisch, entspricht aber dem, was klar zu sehen ist. Putin hat den Westen auf dem falschen Bein erwischt. Das war kein Zufall oder eine irre Idee, sondern das Produkt einer genauen (eher schon brutalen) Analyse des Status quo westlicher Verteidigungs- und Sicherheitspolitik und der sichtbaren Schwäche gerade europäischer Strukturen „nach“ Corona.

Zustand der Streitkräfte

Die westlichen Armeen sind bis auf die der USA materiell unterversorgt und haben große Personallücken. Allein die Bundeswehr, Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts die modernste Armee der NATO, ist nur noch ein Schatten ihres einstigen Selbst. Eigentlich nicht einsatzbereit. Noch nicht einmal in kleinen Teilen. Eher gar nicht. Und personell bis zu 10% nicht ausreichend besetzt. Dies gilt auch in Schlüsselfunktionen. Das ist eine direkte Folge davon, die 2%-Regel bei der Rüstung seit 30 Jahren wegzudiskutieren. Wieder und wieder und immer wieder. Bejubelt von denen, die europaweit sowieso nichts mit Streitkräften zu tun haben wollten. Daher wurde auch flächendeckend die Wehrpflicht abgeschafft, was nach zwanzig Jahren dann auch den verfügbaren Verteidigungsumfang deutlich absenkte. Von einstmals 1,2 Millionen auf vielleicht nun klägliche 250.000 Mann in Deutschland. Denn ohne Wehrpflicht gibt es auch keine gesunde Basis für Reservetruppen, um den Aufwuchs der aktiven Streitkräfte schnell zu unterstützen. Letztlich etwas, was im demographischen Wandel sowieso recht schwer ist.

Und was die Qualität der Nesthocker- und Gamergeneration angeht, ist diese der Personallage nicht gerade zuträglich. Soldat zu sein ist halt kein Homeofficejob. Auch wenn drei aufeinanderfolgende Ministerinnen das so gern ansahen. Der Russe hat all das genau mitgeplottet, hochgerechnet und dann bewertet. Er kam auf die gleichen Antworten wie all die, die von linken Seiten gern für ihre Warnungen „belächelt“ wurden.

Dazu kommt gerade bei der Bundeswehr eine durch die Presse geförderte und politisch gewollte Entfremdung von Gesellschaft und Armee. Die Bundeswehr wird gesellschaftlich bestenfalls als wirtschaftlicher Standortfaktor wahrgenommen, deren Übungsplätze Biotope zu sein haben. Umweltverträgliche Schießanlagen waren wichtiger als überhaupt das Schießen zu üben. Die Kampagne gegen Truppenteile der Bundeswehr wie das KSK kamen und kommen der Zersetzung gleich. Das hat die Attraktivität nicht gerade gefördert, was dann Konsequenzen auf das hatte, was sich noch freiwillig gemeldet hat. Und was da kam, überstand zu immer größeren Teilen nicht die Grundausbildung oder schied in den ersten sechs Monaten freiwillig aus. Um das zu verhindern, wurden die Anforderungen immer weiter abgesenkt. Auch das wurde international erkannt. Auch in Russland. Im Bereich der Infanterie, also den Truppen, die kämpfen (können, sollen…) ist der Anteil der Deutschen mit Migrationshintergrund recht hoch. Gern auch ex-Russlanddeutsche, was jetzt natürlich Fragen der Loyalität aufwirft.

NATO-Reserven

…gibt es nicht aber eine ganze Anzahl von Truppenkörpern, die einen höheren Bereitschaftsgrad haben (sollten). Bis hin zu Truppen, die abrufbereit Gewehr bei Fuß stehen sollten. Insgesamt sind das 40.000 Mann, die innerhalb von ein paar Wochen „loslegen“ könnten. Was sofort abmarschbereit ist, sind aber nur 2-3.000 Mann. Und auch hier wurde gern getrickst, indem man ein und dieselben Truppen gleich mal mehrfach für verschiedene Bereitschaftsgrade meldete. Gern auch solche Truppen, die gar nicht das Material haben – zumindest nicht einsatzbereit – aber denen man das Material aus anderen Verbänden hätte zuführen können. Die Definition von „einsatzbereit“ war seit 1990 im freien Fall. Europaweit, denn es ging ja um nichts. Es wurde ja auch nur wohlwollend überprüft, und die (durchaus kritischen) Berichte wurden politisch zensiert und abgeheftet.

Die Grundwehrdienstleistenden nach dem Ende der UdSSR waren anders als vor dem Ende des Ost-West-Konfliktes nie nach dem Ende ihres Wehrdienstes richtige Soldaten oder gar einsatzbereit. Sie waren Kanonenfutter, das erst mit einer dreimonatigen weiteren Einsatzausbildung kriegstauglich gewesen wäre. Und was zum Ende der Wehrpflicht als W10 aus den Kasernen stolperte hat den Begriff Soldat nie verdient gehabt. Daher ist der (theoretisch!) noch einsatzfähige Bestand an Reservisten extrem gering, und funktional falsch verteilt.

Man hat nun viele Häuptlinge unterschiedlicher Ränge, aber viel zu wenig Indianer. Und die, die da sind, sind in der Regel zu alt geworden, um „vorn mitspielen zu können“. Aus diesem Grund konnte Putin auch ohne vorhergehende Mobilmachung angreifen. Quasi aus der Portokasse heraus mit dem, was an Wechselgeld da war. Unsere Militärexperten glaubten an eine Vorwarnzeit durch eine Mobilmachung… Dass diese für begrenze Angriffsoperationen und mit einem wirklich einsatzbereiten Heer wegfallen können würde, war für unsere Generalität im Westen nicht fassbar. Die Idee war zu absurd.

Daher nun auch die hohe Panik in politischer wie militärischer Führung der NATO.

Politik des Westens

Weil das so ist, steht nun gerade die westliche Politikerelite im Fokus ihrer ohnehin durch Corona und andere mangelhafte Aufgabenerledigungen versagenden Zustimmung des Volkes. All die Sprechblasen zur Sicherheitspolitik lösen sich gerade auf. All die immer wieder gebetsmühlenartig vorgetragenen Beteuerungen, die Streitkräfte zu stärken, lösen sich in Luft auf. Der Aufschlag auf dem Boden der Realität ist hart. Die Erkenntnis, sich militärische Spitzenberater herangezogen zu haben, die gern karrierekonforme Meinungsbilder zum Zustand der Streitkräfte und des Gegners abgaben, ist nun offensichtlich. JASagertum wurde seit fast 20 Jahren unter den Generälen belohnt… Dass auch die Politik versagt hat, wird wohl versucht herunterzuspielen. Denn wer kein Geld für Streitkräfte ausgeben will, sollte zumindest so clever sein dafür zu sorgen, dass sie wirklich NIEMALS gebraucht werden.

Wenn man sich die Rhetorik von Frau Baerbock der letzten Wochen ansieht, war da nur fachfremde Hybris zu hören. Putin hat das registriert. Seit Jahren konnte er beobachten, wie immer unfähigere westliche Politiker die Bühne eroberten. Von einer Presse gehypt, die auch selbst kaum noch fachlich kompetente Journalisten in Sachen Sicherheits(oder auch Wirtschafts- und Finanz)politik hervorgebracht hat. So konnte der jetzt erstaunten Öffentlichkeit, abseits der Expertenebene zu der Russland aber gehörte, der Glaube vermittelt werden, man habe alles im Griff und es würde ewiger Friede sein, solange man sich nur genügend aufplustert und mit Sanktionen droht.

Nur wurde nicht erkannt, dass Putin gelernt hat, mit Sanktionen zu leben, sich neue Verbündete zu suchen (China, Indien) und sich mit ihnen in der Welt „einzurichten“. Hier wird das Politikversagen besonders deutlich.

Möglichkeiten der billigen Konfliktausdehnung

Nun schreit der Westen nach Schutz vor der russischen Invasion. Besonders die Staaten, die an der russischen Grenze liegen und in der NATO sind. Man muss zugestehen, dass das auch die Staaten sind, die schon immer eher Geld für Sicherheit auszugeben bereit waren. Das Baltikum und Polen. Natürlich sind das nun auch die Staaten, die nach Verstärkungen der NATO rufen und so die 40.000 Mann Reaktionsreserve der NATO schnell aufsplitten und verteilen werden. Als beruhigenden Aspekt für die eigene pazifistisch vollgelullte Bevölkerung.

Und natürlich bekommen sie diese Truppen, denn hier können sich westliche Politiker und Staaten profilieren etwas zu tun. es bringt zwar nur optische Verbesserungen, die militärisch sogar fatal – weil reaktionshemmend – sind, nur weiß das ja keiner. Man verstärkt die Grenze zu Putin und das kann nur gut sein. Russland wird den Westen beschäftigt halten. Cyberangriffe werden stark zunehmen.

Fünfte Kolonnen werden kommen

Der Propagandakrieg wird zur Blüte gebracht. Besonders wird auf die hier lebenden Russen Einfluss genommen, was die innere Sicherheit auf Trapp halten sollte. Zu einem Zeitpunkt, wo der innere Frieden sowieso schon der Spaltung unterliegt. Dann gibt es da die Stellvertreterkriege, die man wieder billig führen kann. Anerkennung der Taliban in AFG und großzügige Hilfe bei der Versorgung der hungernden Bevölkerung, die schnell lernt, dass es auch gute Russen gibt und der böse Westmensch schon immer gegen Allah war. Und sobald China die Gunst der Lage erkennt, werden sich in Fernost auch ein paar Spielfelder öffnen, wo dann allein die USA gebunden sein wird.

Einkalkulierte Folgen in Europa

Putin hat das wirtschaftliche und finanzielle Gefüge der EU genaustens studiert. Er weiß sehr wohl um die Bedeutung der stark steigenden Inflation, zu der er durch gedrosselte Gas-Lieferungen selbst beigetragen hat. Verstärkt wird der Preisauftrieb durch den nun eskalierenden Sanktionskrieg. Betroffen ist insbesonders die energietechnisch schwache wirtschaftliche Führungsmacht in der EU: Deutschland. Auf dem Kalkül hat er natürlich auch die rot-gelb-grüne Regierung und ihre eigentlichen Ziele der ökologischen Erneuerung, die aber just now durch pures Selbstverschulden und mangelnde Vorsicht auf Gas angewiesen ist. Diese energetische Schwäche als zusätzlicher Treiber der Inflation in Europa, die zur weiteren Destabilisierung des Euro führen kann, ist einkalkuliert. Die wirtschaftlichen und sozialen Folgen werden die Reaktion des Westens schwächen.

Hier ist die eigentliche Intention von Putin zu sehen, hier und jetzt zugeschlagen zu haben. Er hat nämlich selbst nach dem Fall der UdSSR erlebt, wie eben dieser Zusammenhang von Vertrauensverlust und wirtschaftliche Not ein Szenario in Gang setzen kann, das Russland trotz westlicher Sanktionen letztlich gemeistert hat. Dem Westen steht dieser Weg nun bevor.

Als Fazit lässt sich sagen, dass der Westen vom „irren Putin“ im ungünstigsten Moment seit 1945 erwischt wurde. Er traf eine völlig unvorbereitete europäische Sicherheitsarchitektur mitsamt völlig ungeeigneter Protagonisten in der Politik in einen Umfeld ohnehin schon eskalierender innerer Spannungen und zunehmender wirtschaftlicher Not. Er kann und darf darauf hoffen, dass es bei Sanktionen bleibt und sehr wahrscheinlich eine militärische Antwort ausbleiben wird. Wirtschaftlich wird er kaum leiden, denn er hat sich Alternativen geschaffen, was auf uns leider nicht zutrifft. Realpolitisch ist die Zeit der steten Friedensdividenden abgelaufen und es werden Abermilliarden in die Rüstung und den Wiederaufbau von hochgradig automatisierten Streitkräften fließen müssen, denn demographisch fehlen Soldaten an allen Ecken. Dieser Aspekt wird die Kriegführung in einen Raum jenseits des Cyberwars führen, der so von wirklich keinem gewollt sein kann und an Terminator erinnert, wo autonome Waffensysteme Grenzen kontrollieren. Oder überschreiten…

Als intelligenter Mensch fragt man sich gerade, wie man nur in so eine Falle tappen konnte. Und warum man nicht mehr gemacht hat, um auf diese offensichtlichen Zusammenhänge nicht nachdrücklicher aufmerksam gemacht hat. Zumal man sie gesehen hat. – Die Antwort ist simpel: bis dato wollte das keiner hören!

Sascha Rauschenberger, geboren 1966 in Wattenscheid, ging nach dem Abitur zur Bundeswehr, wo er als Panzeraufklärer und Nachrichtenoffizier Dienst tat. Er diente, unter anderem als Reservist, in vier Auslandseinsätzen, zuletzt als Militärberater in Afghanistan.

Seit 2000 ist er als Unternehmensberater im Bereich Projektmanagement und Arbeitsorganisation (Future Work) tätig.

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