Der Kommentar am Sonntag in DNEWS24.

Gedankenmacher: Berlin – Glasperlen für die Wähler

Im Wahlkampf ist täglich Zahltag. Der Senat haut das Geld raus, als hätte Berlin Geld. Verantwortung für Versagen will niemand übernehmen.

Berlin ist schon was Besonderes. Klar, es gibt in Deutschland noch andere große Städte und es gibt auch andere idyllische Fleckchen. Es gibt andere sehenswerte Museen als auf der Berliner Museums-Insel und fast überall kann man leckere Restaurants finden. Aber in der Summe, Masse und Qualität sowie Vielfalt ist das, was die Hauptstadt zu bieten hat, schon einzigartig.

Die Hauptstadt hat mehr Einwohner als manches Flächenland

Während die Stadt Berlin beim Schuldenmachen zu den Top 3 in Deutschland zählt, ist das Land Berlin hinsichtlich der Einwohnerzahl nur Mittelmaß.

Seit 2011 ist die Einwohnerzahl der Hauptstadt kontinuierlich gestiegen – von 3,326 Millionen im Jahr 2011 auf 3.667 Millionen 2021.

Die Zahl der Wohnungen ist im gleichen Zeitraum von 1.871 Millionen auf 1.998 Millionen gestiegen.

Auch die Zahl der Erwerbstätigen in Berlin steigt. Waren es 2011 1.707 Millionen, sind es 2021 schon 2.089 Millionen gewesen.

Aber auch das Umland in Brandenburg expandiert. Leider ist es bisher nicht gelungen, Stadt Berlin und Land Brandenburg in Einklang zu bringen. Und so entsteht der Effekt, dass die Stadt Berlin Infrastruktur für Pendler bereithalten und bezahlen muss, die Steuereinnahmen durch Pendler aber in die brandenburgischen Dörfer fließen.

Alles neu oder weiter so?

Jetzt haben die Bürger es in der Hand, das Kreuz an der richtigen Stelle zu machen. Sage später niemand, der Senat arbeite schlecht. Der Senat wird von den Wahlbürgern gewählt. Auf Zeit. Der Senat aus SPD, Linken und Grüne hatte mehrere Jahre Zeit den Bürgern zu beweisen, was er kann und was er eben nicht kann. Die Senats-Bilanz liegt offen, für jedermann sichtbar.

Angesichts der krassen Wohnungsnot verspürt jeder zweite Berliner die Angst, seine Wohnung zu verlieren. Die Grüne Jarasch hat es als zuständige aber offenbar nicht verantwortliche Senatorin nicht geschafft, den ÖPNV der BVG zu modernisieren und auszubauen. Im Gegenteil: U-Bahnen und S-Bahnen stehen immer öfter still, das Tramnetz wächst so langsam, als hätten sich Klimakleber vor die Baumaschinen gesetzt, 200 Busse wurden gar abgeschafft. Gleichzeitig sollen die Bürger auf ihr Auto verzichten, auch die Pendler. Soll der Arbeiter mit dem Lastenfahrrad von Wedding nach Oberschöneweide fahren? Schön wärs, finden die Grünen und fördern den Kauf von solchen Fahrrädern mit Unsummen.

Berlin ist eine Stadt der Armen. Nirgendwo sonst leben so viele arme Menschen.

Berlin ist eine Stadt mit international renommierten Hochschulen. Und Schulen, die so marode sind, dass Eltern Angst um die Schüler haben müssen. Jedenfalls sind viele Schultoiletten Kloaken, Internet ist überall Glückssache. Ach, das Internet. In jeder Touristen-Metropole in Europa – in Asien und Afrika sowieso – gibt es ein leicht zugängliches, öffentliches Wlan-Netz. Nicht so in Berlin. Und schon mal überhaupt  nicht in den U-Bahnen, wo es schon aus Gründen der Sicherheit nützlich wäre.

In Berlin ist der Wahlkampf beendet. Die letzte Wahl am 26. September 2021 verlief irregulär, hatte so viele Verfahrensfehler, dass das Landesverfassungsgericht Neuwahlen anordnete. Dies gilt für das Land Berlin und die Stadt, also Abgeordneten-Haus und Bezirksverordnete müssen neu gewählt werden. Der bisherige Senat handelt nicht in Vollstreckung des Volkswillens. Ob das, was der Senat in den Monaten seit September 2021 exekutiert hat, rechtens war, ist eine Denksportaufgabe für staatsrechtliche Feinschmecker.

Die gleichzeitig stattgefundene Bundestagswahl 2021 wird nur in wenigen Stimmbezirken wiederholt; was eh niemand versteht.

Übrigens wollte die OSZE Wahlbeobachter in die deutsche Hauptstadt schicken, auch ein ziemlich beispielloser Vorgang, den man sonst nur aus Failed-States oder Diktaturen kennt. Dazu ist es nun doch nicht gekommen, obwohl im Vorfeld der heutigen Vorbehaltswahlen wieder eine Reihe von Unregelmäßigkeiten bekannt wurden.

Jedenfalls hoffen alle Beteiligten jetzt auf eine möglichst unauffällige Wahl-Abwicklung. Fehler würden aber sowieso passieren – so der Landeswahlleiter im Vorfeld.

Zu den Wohltaten, mit denen der Senat von Berlin unter Franziska Giffey die Wahlberechtigten in der Hauptstadt beglückt und gewogen machen will, gehören zum Beispiel verbilligte BVG-Tickets – gleichzeitig fehlt Geld für Busfahrer und die Bauarbeiter, die das marode Schienennetz von U- und S-Bahn zügig auf den Stand der Zeit bringen sollen. Es fehlen Pläne, Geld und Bauarbeiter für die dringend notwendige Erweiterung des Schienennetzes. Kaum eine Großstadt in Europa baut so wenig ÖPNV-Bahnkilometer wie Berlin.

Wer es leid ist, vergeblich auf Bus oder Bahn des ÖPNV warten zu müssen, kann ja mit dem Fahrrad fahren. Es gibt zwar kaum Fahrrad-Vorrangwege in Berlin – anders als zum Beispiel in Kopenhagen – dafür eine großzügige Subvention von Fahrrädern. Die Fördersummen belaufen sich auf 1.000 Euro für ein Lastenrad ohne Elektromotor, 2.000 Euro für ein Lastenrad mit Elektromotor und immerhin noch 500 Euro für einen Fahrradanhänger. Übrigens: das Verkehrs-Ressort wird von den Grünen geführt, sogar von deren Spitzenkandidatin Bettina Jarasch. Pikant daran ist, dass es unter ihrer Verantwortung zu erheblichsten und fast schon systematischen Störungen und Ausfällen beim ÖPNV kommt. Oft fahren wichtige S-Bahnen nicht, Trams fallen aus, Busse fahren unregelmäßig. Und eine der wichtigsten Ost-West-Verbindungen der U-Bahn, die U2, ist noch mindestens bis August 2023 gesperrt, vielleicht sogar noch länger.

Oder die Jugendkulturkarte. Sie hat einen Wert von 50 Euro und kann von jedem Jugendlichen frei genutzt werden. Ob er mit dem Geld den Besuch im Bode-Museum finanziert oder einen Abend im Club, bleibt ihm überlassen.

Woher nimmt Berlin das Geld für all die Wahlgeschenke und ideologischen Experimente?

Berlin ist (fast) Spitze beim Schuldenmachen

Die Verschuldung Berlins ist von 9,3 Milliarden Euro 1990 auf 65,9 Milliarden Euro 2021 gestiegen. Die jeweiligen Finanzsenatoren der Stadt – seit 1990 CDU, SPD (unter anderen Thilo Sarrazin), parteilos, jetzt Bündnis 90/Grüne – hatten das Zusammenwachsen der Infrastruktur zweier Städte zu bezahlen. In diesem Zuge wurden auch für unnötig erachtete Doppelstrukturen abgebaut. Nicht wenige Beobachter sprechen heute davon, dass die Stadt kaputtgespart wurde. Sie beziehen sich hierbei auf den Zustand der vielfach maroden Schulen, Straßen, den Stand der Digitalisierung und, und, und.

Also aus eigener Kraft kann sich Berlin vieles nicht leisten. Also werden auf Teufel komm raus Schulden gemacht, die die Kinder, die heute in maroden Schulen vor sich hin lernen, später bezahlen sollen. Es gibt aber auch noch die reichen Vettern, in Hessen, Baden-Württemberg und vor allem Bayern.

Länderfinanzausgleich

Maßgeblich für die horizontale Verteilung der Steuereinnahmen unter den Ländern ist grundsätzlich das örtliche Aufkommen. Die Landessteuern sowie der Länderanteil an der Einkommen- und Körperschaftsteuer stehen den einzelnen Ländern insoweit zu, als die Steuern von den Finanzbehörden dieser Länder erhoben werden. Korrekturen über Zerlegungen werden bei der Lohn- und Körperschaftsteuer sowie bei der Abgeltungsteuer auf Zins- und Veräußerungserträge vorgenommen, weil aus Gründen der Steuererhebungstechnik diese Steuern nicht in dem Land erhoben werden, dem sie nach der Steuersystematik zugeordnet werden müssen.

Das System des Länderfinanzausgleichs hat nun die Aufgabe, die sich durch die Steuerverteilung ergebenden Finanzkraftunterschiede unter den Ländern angemessen auszugleichen, so dass alle Länder in die Lage versetzt werden, den ihnen zugewiesenen – oder eben selbst gewählten – Aufgaben nachzukommen.

Und siehe da: Berlin ist mit Abstand der größte Nehmer im Länderfinanzausgleich.

Volksvermögen verrottet, weil die Linken es so wollen

In Berlin gab es mal einen innerstädtischen Flughafen mit einem riesigen Verwaltungsgebäude. Beides wurde von dem unsäglichen Partymeister Klaus Wowereit und seinem Finanzsenator Thilo Sarrazin (!) stillgelegt, weil ja der BER bald kommen würde. Das dessen Eröffnung sich viele Jahre verzögerte – na ja, ist halt so. Dafür kann doch niemand… Jedenfalls liegt der Tempelhofer Flughafen seit Jahren brach. Die Gebäude sind ungenutzt, die große und innerstädtische Fläche weder bebaut noch begrünt. Weil die Berliner Konsens-wir-wollen-es-allen-recht-machen-Politik zu keiner Entscheidung kommt. Und so werden eben Tausende von Wohnungen nicht gebaut.

Im Stil der „High-Tech-Architektur“ wurde das Internationale Congress Centrum Berlin im weiten Westen der Stadt nach den Plänen der Berliner Architekten Ralf Schüler und Ursulina Schüler-Witte 1975 bis 1979 erbaut. Das ICC zählt zu den bedeutendsten Bauwerken der deutschen Nachkriegszeit. Es kostete kaufkraftbereinigt in heutiger Währung rund 1.106 Millionen Euro. Eigentümer ist das Land Berlin, Betreiberin die Messe Berlin GmbH. Der sanierungsbedürftige Bau am Funkturm wurde 2014 geschlossen. Im Zuge der Flüchtlingskrise wurde das ICC seit Dezember 2015 als Notunterkunft für anfänglich mehr als 500 Bewohner genutzt. Im Juni 2017 lebten dort noch etwa 260 Personen. Von Mai 2016 bis Juni 2017 wurde das Gebäude darüber hinaus als eine der Berliner Erstanlaufstellen für Flüchtlinge genutzt. Bis zu 1.400 Asylbewerber täglich wurden hier abgefertigt. Seit Dezember 2021 wird das ICC als zentrales Corona-Impfzentrum genutzt. Im September 2019 wurde das Gebäude unter Denkmalschutz gestellt. Und nun? Jetzt sollen private Investoren das Gebäude kaufen, sanieren (geschätzte Sanierungskosten Stand 2017: 500 Millionen Euro) und wirtschaftlich betreiben. Am liebsten sähe es der Senat, wenn das ICC zu einer Art Centre Pompidou würde. Eine schöne Idee.

Das ist die Methode Berlin. Erst zusperren und verrotten lassen, dann private Retter suchen und denen die Last aufbürden.

Beispiel Prachtboulevard Unter den Linden. Ich weiß nicht, warum diese breite Fahrstraße, die zum Teil extrem öde ist, Prachtboulevard genannt wird. Es gibt wenige schöne, historisierende Bauten dort. Der Rest ist beliebige Funktions-Architektur oder Russen-Protz. Seit Jahren wurden dort einige Kilometer U-Bahn gebaut. Jetzt, wo diese Bau-Maßnahme abgeschlossen ist, sollen Teile der Linden-Bäume gefällt und die Straße umgebaut werden. Warum nicht gleich alles in einem Zuge? Warum jetzt, wo die Planung für die andere große Ost-West-Straße (Leipziger Straße/Molkenmarkt/Gertraudenstraße) nicht abgeschlossen ist und es anscheinend keinen Plan gibt, wie der Ost-West-Autoverkehr geleitet werden soll. Hauptsache Rückbau. Zurück von der Weltstadt, rein ins autofreie Bullerbü.

BER ist überall in der Hauptstadt. Jede staatliche Baumaßnahme kostet ein Vielfaches dessen, was der Öffentlichkeit ursprünglich angegeben wurde. Alles dauert länger als versprochen. Vieles scheint nicht pragmatisch, sondern ideologisch motiviert.

CDU: gewinnen und doch verlieren?

Wenige Tage vor der heutigen Wahl in Berlin kommt die CDU auf sensationelle Zustimmungswerte. Sensationell, weil die CDU keine typische Großstadt-liberale Partei ist und ihre Positionen dem linksgrünen Bullerbü-Mainstream der Hauptstadt ziemlich fernstehen. Dennoch prognostizieren Wahlforscher der CDU 24 %. Die SPD der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey kommt nur auf 22 %. Vielleicht sind die Bürger verwirrt, denn Giffey hatte vor der letzten Wahl eine Koalition mit FDP und CDU angestrebt. Ihre Partei verhinderte diese neue Deutschland-Koalition jedoch und beharrte auf einem „Weiter so!“ mit Linken und Grünen. Hilfreich ist beim Ansehen der SPD vielleicht auch nicht, dass sich Giffey dauernd und lautstark von der langjährigen Verantwortung ihrer Parte im Senat abgrenzt und absetzt. Die Grünen können auf 17 % hoffen. Ihren Traum, die SPD überflügeln zu können und mit der Augsburgerin Bettina Jarasch eine Grüne ins Rote Rathaus radeln zu lassen, müssen sie wohl begraben. Dass sie ihre lange höheren Zustimmungswerte verloren haben mag daran liegen, dass die Grünen in der Regierungsverantwortung entweder versagen – siehe ÖPNV – oder Minderheiten-Klientelpolitik betreiben, die die breite Mehrheit der Wahlberechtigten nicht erreicht. Die Linke kann auf 11 % hoffen, die AfD auf 9 %. Die FDP muss mit prognostizierten 7 % um den Wiedereinzug in das Abgeordnetenhaus von Berlin bangen. Es wird eine relativ geringe Wahlbeteiligung erwartet.

Szenarien des Wahlausgangs

  1. die bisherige Koalition kommt auf eine knappe Mehrheit. Regierende Bürgermeisterin wird wieder Franziska Giffey. Die Grüne Jarasch hat die lange gärenden Hoffnungs-Keime in der Friedrichstraße zertrampelt. Oder:
  2. die SPD, die nicht „unter“ den Grünen regieren will, bildet mit der CDU und der FDP einen neuen Senat.

Die Berliner meckern

68 Prozent der Bürger in Berlin geben an, ihr Vertrauen in die politischen Institutionen sei durch das Wahl-Debakel 2021 etwas oder sogar stark gesunken. „Stark gesunken“ ist das Vertrauen vor allem bei den über 60-Jährigen, den „Alt-Berlinern“ im Ostteil der Hauptstadt sowie bei den Anhängern der drei Oppositionsparteien im Abgeordnetenhaus. Nur 24 % der Befragten traut den Bündnispartnern SPD, Grünen und Linkspartei zusammen zu, die gravierenden Probleme der Stadt lösen zu können.

Berlin ist flächendeckend und auf allen Ebenen schlecht verwaltet, schlecht regiert. Für die Alltagsprobleme der kleinen Leute haben SPD, Linke und Grüne kein Gefühl. Das öffentliche Berlin ist peinlich. Die Aussagen und Ausreden der Wahlkämpfer der Koalition zur Lage der Stadt waren eine unsägliche Mischung aus Heuchelei und Verlogenheit. Das Verantwortungs-Ping-Pong kontrastiert mit dem pragmatischen Überlebenswillen von fast vier Millionen Menschen in der Hauptstadt.

Trotz allem: Berlin ist eine der schönsten großen Städte in Europa. Der Verdienst dafür liegt bei der Natur und den Bürgern. Nicht bei den Verantwortlichen in der Politik.

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Der Autor

Uwe-Matthias Müller ist Gründer und Vorstand des Bundesverband Initiative 50Plus, des Bundesverband Initiative 50Plus Austria und Sprecher des European Center of Competence for Demography.

Bis 1996 hat er mit seiner Frau und den beiden Töchtern in (West-)Berlin gelebt. Nach zwei Jahren im Ausland lebt er heute in Bayern.

Uwe-Matthias Müller kommt viel und gern nach Berlin. „Als Berliner auf Zeit geniesst man nur die Vorteile der Hauptstadt und kann die vielen Unzulänglichkeiten, unter denen die Bewohner täglich leiden, einfach ignorieren.“

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