Film-Tipp: Die schönsten Jahre eines Lebens

53 Jahre ist es her, dass Regisseur Claude Lelouch mit Ein Mann und eine Frau einen Kinoklassiker schuf, der gleichzeitig die Art, wie Liebesgeschichten erzählt wurden, revolutionierte. Vielfach preisgekrönt – darunter mit zwei Oscars und der Goldenen Palme von Cannes –, begründete die Love-Story im Stil der Nouvelle Vague auch den Weltruhm ihrer Stars Anouk Aimée und Jean-Louis Trintignant. Jetzt treffen sich die beiden Stars wieder…

Mit geschlossenen Augen malt er sich die Vergangenheit in den schönsten Farben aus. Doch wenn er den Blick auf das Hier und Jetzt richtet, sieht er  nichts, was ihm gefällt. Jean-Louis Duroc (Jean-Louis Trintignant) ist als alter Herr bloß noch ein Schatten seiner selbst; nichts, was das Leben in dem vornehmen Seniorenheim bietet, wo sein Sohn ihn untergebracht hat, hält den früheren Rennfahrer bei Laune. Die anderen „Alten“, wie er sagt, mag er nicht, und sich an Gemeinschaftsaktivitäten zu beteiligen, interessiert ihn schon gar nicht. Lieber sitzt er für sich allein im weitläufigen Park und hängt
seinen Erinnerungen nach.

Es sind vor allem die Erinnerungen an jene Frau, die er nicht hatte halten können, die seine Lebensgeister beflügeln. Antoine (Antoine Siri) fällt das natürlich auf, wenn er seinen Vater besucht, denn die traurige Wahrheit ist, dass ihn sein Gedächtnis von Tag zu Tag mehr im Stich lässt. Antoine beschließt, die Tagträume seines alten Herrn wahr werden zu lassen, und forscht nach jener Anne Gauthier, die vor 52 Jahren eine ebenso stürmische wie aussichtslose Affäre mit Jean-Louis hatte. Er findet sie („War nicht leicht!“) in einem hübschen Dorf irgendwo in der Normandie, wo sie einen kleinen Laden führt, immer noch eine unglaublich schöne, dem Leben zugewandte Frau, deren Tochter und Enkelin ganz in der Nähe wohnen.

Als Antoine ihr vorschlägt, Jean-Louis einen Besuch abzustatten, weil es ihm angesichts seiner traurigen Verfassung mit Sicherheit ausgesprochen guttäte, zögert Anne. Ihre Beziehung sei damals nicht so schön zu Ende gegangen, gibt sie zu bedenken. Dennoch überwindet sie sich und fährt gleich am nächsten Tag zu Jean-Louis. Das Wiedersehen verläuft freilich anders, als sie es sich erhofft hatte.

Denn er erkennt sie nicht und verliert im Gespräch immer wieder den Faden, bestreitet sogar, dass er einen Sohn hat. Allerdings gibt er ihr auch ein paarmal zu verstehen, dass sie ihn an eine Frau erinnere, die er einst, vor sehr, sehr langer Zeit, geliebt habe.

Am nächsten Tag berichtet sie ihrer Tochter und ihrer Enkelin von ihrem Kurztrip in die Vergangenheit, der sie ratlos zurückgelassen hat. Da taucht unverhofft Antoine auf. Er hat erfahren, dass Anne bei seinem Vater war, und bedankt sich überschwänglich mit einem riesigen Blumenstrauß. Sein alter Herr sei wie ausgewechselt! Die Einladung, zum Essen zu bleiben, nimmt er gern an, zumal Annes Tochter und er genau genommen der Grund waren, dass ihre Eltern sich ineinander verliebten.

Francoise und Antoine verbrachten ihre Schulzeit im selben Internat, und dort lernten sich Anne und Jean-Louis kennen, als sie ihre Kinder einmal zufällig am selben Tag besuchten. So klein sie damals auch waren, so tief brannten sich bestimmte Szenen aus jener Zeit – die gemeinsamen Ausflüge an den Strand von Deauville, eine Bootsfahrt – in ihre Erinnerung ein. Eine halbe Ewigkeit haben sie sich nicht gesehen, doch jetzt scheint es, als hätten sie sich eine Menge zu sagen…

Anne hatte Jean-Louis versprochen, dass sie wiederkommen würde, und wie es aussieht, hält sie Wort. Sie „entführt“ ihn sogar aus seinem Gefängnis, wie er es nennt, und unternimmt mit ihm eine kleine Spritztour in ihrer Ente. Bei einer Polizeikontrolle werden sie von zwei Gendarmen verwarnt, weil Anne zu langsam fährt und den Verkehr aufhält. Kurzerhand setzt sich Jean-Louis ans Steuer und kurvt wie in seinen besten Zeiten als Rallyefahrer durch die schmalen Landstraßen – bis sie mit 93 Stundenkilometern geblitzt und von einer weiteren Streife angehalten werden. Während Jean-Louis den Gendarm der Lüge bezichtigt („Ich bin über 100 gefahren, keine 93!“), steigt Anne aus und entfernt sich ein paar Schritte. Dann zieht sie einen Revolver aus ihrer Tasche und schießt. Getroffen gehen die beiden Polizisten zu Boden… und Jean-Louis erwacht aus einem Tagtraum.

Nach ihrem Wiedersehen hat sich Anne fest in seinem Kopf eingenistet, und als sie ihn dann wirklich ein zweites Mal besucht, erkennt er sie sogar wieder. Es scheint, als würde ihre Nähe seine Hirnströme neu beleben, alles Schwere fällt von ihm ab, und plötzlich erinnert er sich an ganz viele Dinge. Als sie ihm ein Picknick im Grünen vorschlägt, nimmt er die Einladung freudestrahlend an. Ihr Ausflug führt sie sogar spontan bis nach Deauville, ins Hotel Normandy und das Zimmer 26. „Hier hat alles angefangen“, sagt Anne, als sie kurz den Raum betreten dürfen. Am Strand werden beide von Erinnerungen an früher durchflutet, und weil Jean-Louis erkennt, dass er es war, der ihre Liebe damals zum Scheitern verurteilte, bittet er Anne um Verzeihung. Wieder werden sie von einem Polizisten angehalten. Es sei verboten, erklärt er den beiden, mit einem Auto über die hölzerne Strandpromenade zu fahren. „Seit wann denn das?“, will Jean-Louis wissen. Seit vor einem halben Jahrhundert irgendein Idiot schon mal über die berühmten Planches von Deauville gebrettert sei. „Ha, das war ich!“, triumphiert Jean-Louis… und erwacht erneut aus einem Tagtraum.

Mehr und mehr verbinden sich Gestern und Heute in Jean-Louis‘ Gedanken zu einem unentwirrbaren Netz aus Bildern, Gefühlen und Erinnerungen, aus Realität und Fantasie. Ein drittes Mal kommt Anne zu Besuch (aber passiert das wirklich?), und als er sie fragt, ob sie neu im Heim sei, nickt Anne lächelnd. Ob er sie herumführen und ihr alles zeigen könne, will sie wissen. „Mit dem größten Vergnügen“, sagt Jean-Louis begeistert und strahlt übers ganze Gesicht.

Wie hat es Victor Hugo einmal ausgedrückt? Die schönsten Jahre eines Lebens sind die, die man noch vor sich hat…