Demografie: Die Mehrheit der Deutschen will nicht länger arbeiten

Nur jeder Achte Erwerbstätige will bis zur Regelaltersgrenze arbeiten. Eine Mehrheit erwartet, dass die Rente nicht ausreicht. Nur 18 % fühlen sich fit genug für Arbeit über 69.

Der demografische Wandel stellt Deutschland vor immense Herausforderungen. Die Erhöhung des Renteneintrittsalters ist allerdings eine Antwort, die bei der Bevölkerung auf wenig Gegenliebe trifft. Die Ergebnisse einer aktuellen Umfrage des Marktforschungsinstituts Civey im Auftrag des Demographie Netzwerks e.V. (ddn) zeigen, dass die Mehrheit der Erwerbstätigen (53 Prozent) vor dem 63. Lebensjahr aus dem Erwerbsleben ausscheiden will. Zugleich geht allerdings gut jede*r Zweite geht davon aus, dass später in der Rente das Geld nicht ausreichen wird.

Mehrheit will früh in Rente gehen

Wenn es sich die Erwerbstätigen aussuchen dürften, würde nur jeder Achte bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter von 67 Jahren berufstätig bleiben. Dabei nimmt die gewünschte Altersgrenze mit steigendem Lebensalter zu. Gerade die jüngeren Befragten wollen mehrheitlich sogar schon mit 61 oder früher in Rente gehen: Fast 60 Prozent der 18- bis 29-Jährigen möchten mit 61 oder früher aus dem Erwerbsleben ausscheiden. Einfluss auf die gewünschte Altersgrenze hat neben der Berufsausbildung auch die berufliche Stellung, das Geschlecht und die Anzahl der Kinder: Mit höherer Qualifikation steigt der Wunsch, länger zu arbeiten. Über die Hälfte der Arbeiter möchte nur bis 61 arbeiten, bei den leitenden Angestellten äußern diesen Wunsch nur 40 Prozent.

Schere zwischen Können und Wollen

Ungeachtet der gesetzlichen Altersgrenze halten sich fast drei Viertel der befragten Erwerbstätigen für geistig und körperlich nicht in der Lage, bis 67 oder länger zu arbeiten. Die Mehrheit (52 Prozent) erwartet, bis 65 nicht mehr in der Lage zu sein, weiter zu arbeiten. Auch hier zeigen sich klare Unterschiede nach Ausbildung und beruflicher Stellung: Bei Arbeitern fühlen sich über 90 Prozent nicht in der Lage, länger als 65 zu arbeiten. Bei leitenden Angestellten und Beamten sind dies fast 20 Prozentpunkte weniger. Bei den befragten Akademikern hält sich hingegen ein Viertel für fit genug, um länger als 69 arbeiten zu können.

Haupthindernisse sind körperliche Arbeitsbelastung und Arbeitsstress

Auf die Frage, was sich bei ihrer Arbeit ändern müsste, damit sie länger arbeiten wollen, waren „weniger körperliche Belastung und weniger Stress“ (40 Prozent), „mehr Flexibilität bezüglich der Arbeitszeit“ (34 Prozent) und „mehr Gehalt“ (33 Prozent) die meistgenannten Antworten. Knapp ein Viertel der Erwerbstätigen würde länger arbeiten, wenn es mehr Wertschätzung durch Vorgesetzte gäbe. 28 Prozent waren allerdings nicht für eine der genannten Optionen erreichbar.

Ein besonders großer Anreiz für längeres Arbeiten wäre für Arbeiter die Reduzierung der körperlichen Belastung und von Arbeitsstress (57 Prozent). Noch wichtiger ist dieser Faktor nur unter denjenigen, die über keinen Abschluss verfügen. Bei den jüngeren Befragten unter 29 und bei den Angestellten ist jeweils „Gehalt“ die meistgewählte Antwort.

Rente reicht für Mehrheit nicht aus

Über die Hälfte der Befragten geht davon aus, dass das Geld im Alter nicht ausreicht, wenn sie regulär in Rente gehen. Erwartungsgemäß ist auch dieser Anteil bei Arbeitern wesentlich höher (75 Prozent) als bei leitenden Angestellten (42 Prozent) und Beamten (30 Prozent). Eklatant ist außerdem der Unterschied zwischen Männern und Frauen; fast 62 Prozent der Frauen gehen davon aus, dass ihnen das Geld im Alter nicht reicht, gegenüber 42 Prozent bei Männern. In Ostdeutschland (60 Prozent) sind die Befürchtungen häufiger als im Westen (50 Prozent).

Einschätzungen zur Studie

„Die Ergebnisse unsere Umfrage zeigen, dass wir trotz vielfacher wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Arbeitswelt noch immer nicht ausreichend auf den demografischen Wandel vorbereitet sind. Die Wucht dieses gesellschaftlichen Umbruchs wird Unternehmen in den nächsten fünf Jahren voll treffen“, sagt Frank Böhringer vom Vorstand des Demographie Netzwerks ddn. „Wir brauchen jetzt ernsthaft eine politische und gesellschaftliche Debatte darüber, wie und wovon Leute im Alter leben sollen. Das reicht von den heutigen und zukünftigen Arbeitsbedingungen bis zur Rentenfinanzierung und betrifft auch unser Bild vom Alter und der Arbeitskultur generell. Die sich gerade bildende Bundesregierung muss diese Themen zur obersten Priorität erklären. Unternehmen und Sozialpartner brauchen angesichts des Fachkräftemangels schleunigst tragfähige Konzepte und Initiativen, um die Zukunft der Arbeit neu zu gestalten.“

„Die Zahlen bestätigen erstens, dass in Deutschland nach wie vor eine >Kultur des Frühausstiegs< besteht: nur sehr wenige wollen bis zum Rentenalter erwerbstätig bleiben. Sie bestätigen darüber hinaus auch, worauf auch die Ergebnisse unserer lidA-Studie hindeuten: Es gibt Gruppen, für die eine Regelaltersgrenze von 68 Jahren oder darüber durchaus zumutbar wäre, während für andere Gruppen bereits die heutige Regelaltersgrenze von 66/67 Jahren unzumutbar ist. Dies spricht gegen eine generelle Erhöhung des Renteneintrittsalters und stattdessen für eine nach Arbeitstätigkeit differenzierende Regelung.

Die Ergebnisse zeigen aber auch: Ein wichtiger Ansatzpunkt für Politik und Unternehmen sind die Arbeitsbedingungen. Will man Menschen länger im Erwerbsleben halten, müssen die Arbeitsbedingungen vielerorts verbessert werden, Möglichkeiten wurden in der Befragung ja klar benannt. Nach unseren Berechnungen hat jede/r dritte Babyboomer in Deutschland schlechte Arbeit. Das darf nicht länger toleriert werden.“ sagt Prof. Dr. med. Hans Martin Hasselhorn, Leiter des Fachgebiets für Arbeitswissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal.

„Bei allen negativen Ergebnissen spricht sich in der Erhebung jede elfte Person dafür aus, über das gesetzliche Rentenalter hinaus arbeiten zu wollen. Dadurch erleben wir eine paradoxe Situation: Während viele nicht mehr können oder wollen, werden andere regelrecht daran gehindert, ihre Arbeitskraft weiter einzubringen. Die Schlussfolgerung daraus: Unternehmen sollten Arbeit viel individueller gestalten und an unterschiedliche Lebenssituationen anpassen, als es bislang geschieht. Dazu gilt es, das Potenzial derer zu nutzen, die länger arbeiten können und Lust haben, und genauso aktiv um Ältere wie um junge Talente zu werben“, sagt Prof. Dr. Jürgen Deller, Professur für Wirtschaftspsychologie an der Leuphana Universität Lüneburg.