„Dann sterb ich halt!“

Ein Interview mit Lydia Staltner, Gründerin und 1. Vorstand von LichtBlick Seniorenhilfe e.V. und Markus Matt, Kommunikations-Chef des Vereins.

Armut in Deutschland

Die Grafik des Statistischen Bundesamtes zeigt den Anteil der von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffenen Bevölkerung in Deutschland im Jahr 2018. Insgesamt waren 18,7 Prozent der Bevölkerung in Deutschland im Jahr 2018 von Armut oder sozialer Ausgrenzung betroffen. Bei den über 65jährigen sind das 3,1 Millionen Bürger unseres Landes.

Armut oder soziale Ausgrenzung ist laut Quelle nach der Definition der Europäischen Union (EU) gegeben, wenn bei den befragten Haushalten eines oder mehrere der drei Kriterien „Armutsgefährdung“, „erhebliche materielle Entbehrung“, „Zugehörigkeit zu einem Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung“ vorliegen.

Ein Verein in München will armen, älteren Menschen helfen. DNEWS24 sprach mit den Initiatoren.

DNEWS24: Wie geht es „Ihren“ Senioren aktuell?

Staltner: Allein vormittags rufen in unserem Büro eine Menge alter Menschen an, viele weinend. Sie sagen, dass sie sich nicht mehr aus dem Haus trauen. Einige wissen nicht, wie sie ihre Medikamente abholen können oder wie sie einkaufen sollen. Wer keine Verwandten hat, ist zudem völlig auf sich gestellt. Einige bekommen vielleicht Unterstützung durch die Nachbarn, doch den meisten fehlen Ansprechpartner. Sie sind sehr einsam. Vergangene Woche habe ich mit einer 90-Jährigen gesprochen. Sie sagte mir, dass sie jetzt sechs Wochen lang mit niemandem mehr geredet hat. Sie hatte Geburtstag in dieser Zeit – und war völlig allein. Was sie jetzt erlebe, sei schlimmer als der Krieg, sagte sie.

DNEWS24: Was lösen solche Sätze in Ihnen aus?

Staltner: Ich rege mich wahnsinnig auf. Darüber, dass die Politik sagt, sie will alte Menschen schützen, sie aber gleichzeitig völlig allein lässt. Natürlich gibt es Telefondienste. Aber Leute, die verängstigt und einsam sind, wenden sich nur an Menschen oder Organisationen, die sie kennen. Sie rufen nicht irgendwo an.

Matt: Die Politik versäumt es leider, neben all den Nachrichten über Gefahren und Risiken, mit denen wir gerade leben müssen, etwas Positives zu verbreiten. Dabei wäre es in der aktuellen Lage besonders wichtig, auch Hoffnung und Zuversicht zu spenden – gerade für Senioren. Schon ein Satz aus berufenem Munde kann vielen alten Menschen das Gefühl vermitteln, nicht ganz alleine dazustehen.

DNEWS24: Besteht bei vielen Senioren die Gefahr, dass sie depressiv werden?

Matt: Eindeutig ja. Depressionen sind ein großes Thema bei alten Menschen, leider nicht selten bis hin zu konkreten Selbstmordgedanken. In diesem denkwürdigen Jahr mit all den bekannten Einschränkungen und auch jetzt in dieser ungewöhnlich kargen Weihnachtszeit gilt das in besonderem Maße.

Staltner: Wer sich weggesperrt fühlt oder keine Perspektive mehr hat, kann leicht den Lebensmut verlieren. Bei vielen Senioren, die wir lange betreuen, ist das Lachen völlig verschwunden. Ich blicke so oft in traurige Augen. Auch in der Stimme von vielen schwingt viel Traurigkeit und Kraftlosigkeit mit.

DNEWS24: Haben die Senioren mehr Angst vor Corona oder vor der Einsamkeit?

Staltner: Ich glaube, vor beidem gleichermaßen. Die Nachrichten machen ihnen Angst. Selbst für jene Senioren mit Angehörigen ist die Situation sehr schwer. Meine Mutter lebt in einem Altenheim. Ich muss jeden Tag einen negativen Schnelltest mitbringen, wenn ich sie besuchen möchte. Den muss ich selbst zahlen. Ich kann mir das leisten, viele Familien aber nicht.

DNEWS24: Über die Menschen in den Pflegeheimen wird viel gesprochen – werden die Senioren, die allein in ihren Wohnungen leben, vergessen?

Staltner: Ja, ganz klar. Ich habe den Verein Lichtblick damals gegründet, um alten Menschen in finanzieller Not zu helfen und um sie aus ihrer Einsamkeit zu holen. Diese Senioren sollten ein selbstbestimmtes Leben in Würde führen dürfen, das ist mir sehr wichtig. Doch nun werden gerade alte Menschen durch die aktuellen Maßnahmen isoliert, man nimmt ihnen die Lebensqualität.

Matt: Nach unserer Erfahrung macht materielle Not die Situation von Senioren noch schlimmer. Armut im Alter und Einsamkeit sind leider häufige Gesellen in unserem reichen Land.

DNEWS24: Was könnte die Politik konkret für die einsamen Senioren tun?

Matt: In einigen Ländern gibt es zum Beispiel feste Einkaufszeiten für Senioren – sie können dann zum Beispiel zwischen 9 und 11 Uhr mit weniger Angst einkaufen gehen. Eine flächendeckende Einführung dieser Maßnahme wäre zum Beispiel eine sinnvolle Hilfe, am besten in Verbindung mit Gratis-FFP2-Masken für alte Menschen. So können die Senioren wenigstens ein Stück weit wieder am gesellschaftlichen Leben teilnehmen. Die Situation der von Corona besonders gefährdeten alten Menschen verdient außerdem mehr Platz in der öffentlichen Debatte.

DNEWS24: Was tut Ihr Verein für die einsamen Menschen?

Staltner: Wir haben immer viele Veranstaltungen für alte Menschen gemacht, Begegnungen gefördert und Gemeinschaft geschaffen. Auch standen die Türen unserer Büros von Anfang an zu den Sprechzeiten offen für „unsere“ Senioren. Da haben in den vergangenen 17 Jahren sehr viele persönliche und bewegende Gespräche stattgefunden.

Seit dem Ausbruch der Pandemie ist einiges anders, doch untätig sind wir nicht. So haben wir seit dem ersten Lockdown insgesamt mehr als 13.000 Lebensmittelpakete vor die Türen bedürftiger Seniorinnen und Senioren gestellt und in Summe gut 10.000 hochwertige Masken verschickt. Außerdem haben wir 400.000 Euro an Soforthilfe geleistet, damit viele unserer rund 16.000 Senioren ihre Nachbarn bitten konnten, für sie einkaufen zu gehen.

Besuchen können wir die Leute aktuell leider nicht. Ein Großteil der Kommunikation mit den Senioren läuft im Moment über das Telefon. Ich kann Ihnen sagen, es wird rege angerufen. In diesem Jahr haben uns täglich zwischen 50 und 100 alte Menschen angerufen und ihr Herz ausgeschüttet. Die Gespräche mit uns sind für diese Menschen oftmals die einzige Gelegenheit, überhaupt mit jemandem reden zu können. Die mitfühlende Aufmerksamkeit unserer Mitarbeiterinnen ist für unsere Rentner das größte Geschenk.

DNEWS24: Wie hat sich die Stimmung seit dem ersten Lockdown verändert?

Staltner: Die Stimmung war am Anfang noch viel besser, jetzt ist sie am Boden. Dazu kommt natürlich: Im Frühjahr und Sommer hatten wir Licht, jetzt wird es so früh dunkel. Es gibt Rentner, die machen nicht mal mehr die Vorhänge auf. Sie lassen kein Licht mehr in ihre Seele – im Wortsinn. Sie geben auf.

Matt: Offen gestanden verlieren viele alte Menschen im Moment den Lebensmut und einige sprechen mit uns sehr offen darüber. Es gibt Sätze, die in diesem Zusammenhang immer wieder gesagt werden: „Dann sterb ich lieber!“ Oder: „Dann infizier ich mich halt. Es ist vielleicht sowieso mein letztes Weihnachten, das will ich nicht einsam verbringen.“

DNEWS24: Wie können Sie auffangen, dass Weihnachten oder an anderen Feiertagen viele Menschen einsam in ihren Wohnungen sitzen werden?

Staltner: Wir versuchen im Rahmen der momentanen Möglichkeiten weiterhin, für die Menschen da zu sein und ihre Not zu lindern. Wie bereits erwähnt hilft es oft schon sehr, wenn Betroffene sich bei uns telefonisch aussprechen können.

Natürlich unterstützen wir unsere Rentner weiterhin in finanzieller Not. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, einer Rentnerin geht kurz vor Weihnachten ausgerechnet der Fernseher kaputt und sie hat kein Geld für einen neuen. Da helfen wir sofort. Das TV-Gerät ist in der aktuellen Isolation für viele Senioren der einzige Zugang zur Gesellschaft. Doch wir helfen natürlich auch bei anderen notwendigen Anschaffungen, alle entsprechenden Anträge werden wie gewohnt bearbeitet. Unsere Senioren können sich immer an uns wenden. Sie wissen, alle Mitarbeiter von LichtBlick sind mit ganzem Herzen für sie da. Allein dieses gute Gefühl gibt den Rentnern schon ein wichtiges Stück Geborgenheit. Es haben uns schon viele alte Menschen gesagt, dass sie ohne uns nicht mehr leben würden.

DNEWS24: Wie können Außenstehende helfen?

Staltner: Sie können die Arbeit unseres Vereins mit Spenden unterstützen. Die Summe der Spenden ist in der Pandemie zum Glück in etwa gleich geblieben – obwohl viele Menschen in Kurzarbeit sind. Aber jeder kann auch in der eigenen Nachbarschaft schauen, ob jemand einsam ist oder Hilfe brauchen könnte. Man kann einen netten Zettel in den Briefkasten schmeißen und Hilfe anbieten. Oder der alten Frau, die aus dem Mülleimer Pfandflaschen fischt, einfach fünf Euro in die Hand drücken. Es muss nicht immer etwas Großes sein. Mehr Miteinander, mehr Gefühl füreinander – gerade für die Menschen, die niemanden haben.

Der Verein LichtBlick Seniorenhilfe e.V. ist Partner des Bundesverband Initiative 50Plus. So können Sie helfen

Das Spendenkonto der LichtBlick Seniorenhilfe e.V. in München:
Sparda-Bank
IBAN: DE30 7009 0500 0004 9010 10
BIC: GENODEF1S04

So erreichen Sie die LichtBlick Seniorenhilfe e.V.

LichtBlick Seniorenhilfe e.V.
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