Corona und Demografie

Unser Gesundheits-System ächzt. Corona bringt das ans Licht, was schon lange gärt. Eine Analyse von Uwe-Matthias Müller

Die grassierende Coronavirus-Pandemie macht es notwendig: der Deutsche Bundestag berät eine Verschärfung des geltenden Infektionsschutzgesetzes. So sollen die durch die Bundesländer auf dem Verordnungsweg erlassenen Maßnahmen rechtlich abgesichert werden. Die Grundrechte auf Freizügigkeit werden weiter drastisch eingeschränkt. Die Bundesregierung zahlt weitere Milliarden Euro zur Behebung der wirtschaftlichen Corona-Folgeschäden an betroffene Branchen. Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht von einer nationalen Notlage. Die einen fragen sich: Reicht das alles aus? Die anderen sagen: Muss das sein? Eine kleine Minderheit verweigert sich und feiert oder demonstriert ungehemmt.

Das RKI und Ärzte berichten, dass die Zahl der Corona-Infektionen stärker exponentiell steigt – noch stärker als im Frühjahr. Im Frühjahr waren viele Kranken-Stationen lange leer, sie wurden quasi in Reserve gehalten. Heute aber nähern sich viele Stationen schon im Herbst ihrer Kapazitätsgrenze. Mehr als 10 Prozent aller Gesundheitsämter sind nicht mehr in der Lage, Kontakte von an Covid-19 Infizierten nachzuverfolgen. Eine große Zahl von Laboren ist überlastet – es fehlt an Material und Personal. Das Coronavirus ist hochansteckend. Wenn sich ein Patient in einem Kranken-Zimmer infiziert hat, dauert es ein paar Tage, dann sind die anderen Patienten auch infiziert. Und besonders gefährdet sind natürlich Pfleger, Ärzte und Besucher.

Die Folgen des Coronavirus sind vor allem für bestimmte Risikogruppen tragisch: Dazu gehören ältere Menschen, aber auch belastete Menschen und solche mit Vorerkrankungen, wie Raucher, Asthmatiker, Diabetiker und Krebspatienten. Für junge und gesunde Menschen ist der Krankheits-Verlauf allgemein nicht schwer.

Warum ist unser Gesundheitssystem schon jetzt am Limit – vor dem Winter, vor der üblichen Grippe-Saison? Das Gesundheitssystem in Deutschland gilt weltweit als technisch und fachlich exzellent. Doch wie in vielen anderen Ländern ist in den vergangenen Jahren massiv Geld eingespart worden – zu Lasten der Ausstattung mit Personal. Die Idee der Ökonomisierung des Gesundheits-Systems fällt nun auf die Vordenker zurück. Zwar sollen Krankenhäuser wirtschaftlich erfolgreich arbeiten. Weil aber die Kosten aufgrund immer umfassenderer Behandlungsmöglichkeiten und wegen einer durch den sich beschleunigenden demografischen Wandel schnell alternden Bevölkerung steigen, wurde eben beim Personal gespart. Das war leicht und erzeugte wenig Widerstand. Die ergriffenen Maßnahmen waren radikal und strukturell. Die 5,6 Millionen Beschäftigten sind überarbeitet. Und Besserung ist kurzfristig nicht in Sicht: selbst unqualifiziertes Personal ist kaum noch zu bekommen, die Akquisitions-Bemühungen laufen bereits europaweit.

Covid-19 verschärft die Lage dramatisch. Wird ein Patient positiv getestet, muss das gesamte Personal, das ihn betreut hat, in Quarantäne. Das „Leasing-Personal“– also Leiharbeiter, die von Krankenhäusern bei Spitzenauslastungen auf Zeit angeheuert werden können, wandert von Krankenhaus zu Krankenhaus und könnte so eine Ansteckungsgefahr für die gefährdete Patientengruppe und Kollegen bilden. Daher dürfen Leiharbeiter in Corona-Zeiten nicht mehr eingesetzt werden. Dabei ist die Behandlung von Corona-Kranken besonders personalintensiv: Wegen Abstand- und Hygiene-Regeln müssen vom Personal umfassende Maßnahmen ergriffen werden. Das beginnt beim häufigen Wechseln der Kleider und endet bei der Belegung der Zimmer. Noch mehr Arbeit also für ein wegen der Quarantäne sowieso schon verkleinertes Team.

Die aktuellen Corona-Maßnahmen sind Behandlungen von Symptomen: Sie werden verordnet, weil es sonst noch rascher zu einem Zusammenbruch des Gesundheitssystems käme. Sie können aber die größte anzunehmende Katastrophe nur bremsen, nicht stoppen. Das Coronavirus ist da, wird mutieren und bleiben – sagen die Virologen. Und es gibt weitere ungelöste Probleme in den Krankenhäusern: immer mehr Antibiotikaresistenzen und tödliche multiresistente Krankenhauskeime.

Das Gesundheitssystem muss grundlegend reformiert werden und endlich auf den demografischen Wandel – eine alternde Bevölkerung und gleichzeitig knapper werdendes Personal – eingestellt werden. Das kostet (politische) Kraft und Geld. Wenn aber für eine Fluggesellschaft ohne funktionierendes Geschäftsmodell und Flughäfen ohne Flugreisende Milliarden Euro da sind, sollte es auch Geld genug für ein nachhaltiges Gesundheitssystem geben. Was aber wirklich fehlt, ist Zeit. Zögern, taktieren oder warten sind keine Option!

Uwe-Matthias Müller ist Gründer und Vorstand des Bundesverband Initiative 50Plus und des Bundesverband Initiative 50Plus Austria. Bis 1996 hat er in (West-)Berlin gelebt. Nach zwei Jahren im Ausland lebt er heute mit seiner Frau und den beiden Töchtern in Bayern.

Uwe-Matthias Müller kommt viel und gern nach Berlin. „Als Berliner auf Zeit geniesst man nur die Vorteile der Hauptstadt und kann die vielen Unzulänglichkeiten, unter denen die Bewohner täglich leiden, einfach ignorieren.“